Tauchsieder

Deutschlands Ungleichheit ist ein Armutszeugnis

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Gravierende Probleme in Deutschland

Darauf hat der US-amerikanische Moralphilosoph Michael Sandel im Interview mit der WirtschaftsWoche vor drei Monaten sehr eindringlich hingewiesen: Demokratie, so Sandel, bedürfe selbstverständlich keiner perfekten Gleichheit, "wohl aber einer Gleichheit, die Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft die Möglichkeit gibt, einen Sinn dafür zu entwickeln, dass sie ein gemeinsames Leben leben". Sandel meint damit, dass Reichtum heute nicht nur bedeutet, sich vom Staat unabhängig machen zu können, sondern auch von der Gesellschaft: Mit der Ungleichheit wachse die Zahl derer, "die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, weder Bus noch Bahn fahren. Diesen Menschen begegnet man nicht mehr. Sie leben, arbeiten und konsumieren, wo andere nicht leben, arbeiten und konsumieren. Das ist nicht gut für die Demokratie. Es unterminiert den Sinn für gemeinsame Ziele, für geteilten Bürgersinn. Eine solche Ungleichheit ist kein Problem für die Armen, sondern für uns alle."

 

Was das konkret bedeutet, haben vor allem angloamerikanische Ökonomen, Historiker und Sozialforscher wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman, Tony Judt oder Richard Wilkinson in den vergangenen Jahren erforscht: "Der Preis der Ungleichheit", so der Titel eines Buches von Stiglitz, bestehe nicht in der Ungleichheit an sich, sondern in dem zunehmenden Mangel an sozialer Mobilität, den sie erzeuge: in der Verfestigung von Besitz- und Machtverhältnissen und in der Zementierung von Mentalitäten. Anders als in Ländern mit einem vergleichsweise kleinen Gini-Koeffizienten (etwa in Skandinavien) entwickelten Reiche wie Arme in Ländern mit hohem Gini-Koeffizienten (in den USA liegt er bei 0,87) mit dem Gefühl, abgekoppelt zu sein von der "Mitte der Gesellschaft" zugleich ein Gefühl der (Selbst-)Verantwortungslosigkeit. Die Gesellschaft zerfalle nicht nur, sondern sie versteinere auch, werde dadurch sklerotisch, pathologisch, krank: Selbst den Reichen gehe es in in weniger ungleichen Ländern wie Schweden gesundheitlich besser als den Reichen in den USA, so die Forscher. Die größte Last der Ungleichheit aber tragen natürlich die Armen: Der Aufstiegswille erlahmt, die Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit greift die Psyche an, einige ernähren sich bloß schlechter als der Durchschnitt, andere werden krank, wieder andere suchen ihr Glück in der Kriminalität - mit der Folge, dass sich die Statusgrenzen weiter verfestigen. Am Ende hat man es aus Sicht der Politik dann nicht mehr mit der "Armut von Kriminellen" zu tun, die es als soziales Problem zu beheben gilt. Sondern mit der "Kriminalität der Armen", die man als Sicherheitsproblem in den Griff zu bekommen versucht. 

 

Die Probleme sind längst auch in Deutschland gravierend. Auch hierzulande gibt es viele Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, dem Kreislauf aus Armut, Arbeitslosigkeit und unsicherer Beschäftigung zu entkommen: Die soziale Frage, vor der sie die Politik stellen, lautet nicht "wer oben und wer unten, sondern wer drinnen und wer draußen ist", schrieb schon vor einigen Jahren der Soziologe Heinz Bude: "Es geht nicht allein um soziale Ungleichheit, auch nicht nur um materielle Armut, sondern um soziale Exklusion." Damit sind Menschen gemeint, die sich wenig leisten und ihren Kindern nichts bieten können, die man "in den Billigmärkten für Lebensmittel trifft, abgekämpft vom täglichen Leben, ohne Kraft sich umeinander zu kümmern, aufeinander zu achten", so Bude. Es sind Menschen, die keine Perspektive haben, keine Hoffnung auf Besserung, keine materiellen Reserven und kein psychisches Ruhekissen. Menschen, die ihr ganzes Leben der Sorge um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes widmen, kein Wohneigentum erwerben und für ihr Alter nicht vorsorgen können. Menschen, deren "Kümmerform des Lebens" - so Wilhelm Röpke, einer der Väter der "sozialen Marktwirtschaft" in den 1950er Jahren - eine Existenz ergibt, die durch "Diskontinuität, Fremdgesetzlichkeit und Beliebigkeit" charakterisiert ist und durch die "Abwesenheit begründeter Hoffnung, aus diesem Geleise herauszukommen".

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