Tauchsieder

Lesen wird überschätzt

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Größte Medienkompetenz hat der, der sich wenig interessiert.

Zu kulturkritischem Alarmismus besteht deshalb allerdings noch lange kein Anlass. Denn für den, der sein Informationsbedürfnis gezielt anzusteuern versteht, eröffnen sich durch die neuen Technologien zunächst einmal schier grenzenlose Arbeits-, Lern- und Lesemöglichkeiten. Das fängt mit dem im e-book eingebauten Lexikon zum schnellen Nachschlagen eines Fremdwortes an und wird mit digitalen Zettelkästen zum Archivieren wichtiger Textstellen noch lange nicht enden. Die weltweite Verfügbarkeit von buchstäblich allen Texten ist keine Utopie mehr - und insbesondere für Forscher, Wissenschaftler und interessierte Laien eine Verheißung. Aber auch für den privaten Konsumenten kann die systematische Textverbilligung - etwa durch eine Streaming-Flatrate, wie es sie heute bereits im Bereich Film und Musik gibt - auf einen quantitative wie qualitativ erhöhten Lesekonsum hinauslaufen. So wie jeder heute bei Spotify ganz ohne Gewähr, Schwellenangst und Zusatzkosten in György Ligeti reinhören oder aber bei Netflix Bekanntschaft mit Aki Kaurismäki schließen kann, so wird der Leser von morgen sich mal eben ein Kapitel aus Max Schelers "Die Stellung des Menschen im Kosmos" reinziehen können - wenn er denn will.

Die größte Medienkompetenz wird in der Zukunft fraglos der haben, der es schafft, sich für bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Der seiner Existenz als Schnittstelle der instantanen Google-Glass-Information misstraut und sich die Fähigkeit zur analogen, innengeleiteten Welterschließung erhält - die Fähigkeit, sein eigener Leben-Lotse zu sein. Das Problem ist, dass es seit der Digitalen Wende immer schwerer wird, sich diese Fähigkeit zu erhalten; dass es zunehmend anstrengend ist, nicht vom Informationsstrom mitgerissen zu werden, nicht selbst zum Newsticker zu werden - nicht selbst das Medium zu sein, durch das die alltägliche Information hindurch fließt und sich vermittelt.

Die Buchindustriellen in Frankfurt haben dafür keinen ausgeprägten Sinn. Sie eilen der Digitalisierung des Buches hinterher, um ihre Umsätze zu beschleunigen. Sie nehmen dadurch in Kauf, dass sie ihre Leser mehr denn je abrichten, "a tempo zu lesen, nämlich alle stets das Selbe, nämlich das Neueste", so Arthur Schopenhauer bereits vor 150 Jahren: "Weil die Leute, statt des besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen,..., verschlammt das Zeitalter immer tiefer in seinem eigenen Dreck." Vor allem aber scheinen sie gar nicht mitzubekommen, das das Lesen selbst in Zukunft von des Menschen Fähigkeit zur Schnittstellen-Flucht abhängen wird. Zwei Stunden konzentriertes Lesen. Die Lektüre von Homer und Shakespeare. Das stille Gespräch mit Sokrates und Platon. Das alles wird in hundert Jahren wohl kein Vergnügen mehr sein. Sondern ein Akt des Widerstandes.

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