Tauchsieder

Sprengt die Fußgängerzonen!

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„Grundlegende Reorganisation unseres sozialen Lebens“

Die meisten Zeitgenossen haben Spenglers Dystopie - der schöpferische Stadtmensch, der ein Opfer seines emanzipativen Strebens wird und sich im Moloch Stadt selbst zum Verschwinden bringt - nicht geteilt. Wohl aber haben die meisten Beobachter das grundstürzend Neue der modernen Großstadt gesehen, sie als soziale Tatsache analysiert, beschrieben und gemalt: ihre Expressivität, Nervosität und Reizflut, ihre Halt- und Ruhelosigkeit, die die Menschen dazu anhält, Distanz zu wahren, sich als höflich-isolierte Individuen mit Neutralität, Interesselosigkeit und „Blasiertheit“ zu begegnen (Georg Simmel). Und Walter Benjamin erfand die Sozialfigur des „Flaneurs“, der sich in lichtdurchfluteten Passagen zugleich verliert und findet, der sich vor den neuen Schaufensterfronten als Adressat kollektivpsychologischer Versprechen erfährt, verdinglicht zur Ware und verführt zur warenförmigen Selbstanreicherung - und der sich als einsamer Individualist lustvoll spiegelt und verirrt im Geflecht der eigenen und fremden Blicke. 

Und heute? Für Martina Löw, Professorin für Architektur- und Planungssoziologie an der TU Berlin, ist klar, dass mit „Amazon“ und „Corona“ einmal mehr eine umfassende Reorganisation des städtischen Raums einhergehen wird, dass die produktive, digitalisierte, grüne, fahrradgerechte Stadt der Zukunft nicht viel gemein haben wird mit den „nervösen“ Städten der Weimarer Republik oder den funktionalisierten Dienstleistungscities, Fußgängerzonen, Parkplätzen und Massenkonsumtempeln, die unser gesellschaftliches Selbstbild als Wirtschaftswunderkinder nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam „bestädtigt“ haben. Junge Leute liefen heute mit ihren digitalen Endgeräten vor den Augen durch die Straßen, um Medien zu konsumieren statt Schaufenster, seien „gewissermaßen blind auf den Straßen unterwegs“. Außerdem ersetze die Videokonferenz künftig das Kaffeehausgespräch, der Spaziergang im Wohnviertel am Stadtrand das Geschäftsessen in der Innenstadt: „Was hier stattfindet“, sagt Löw, „ist nichts weniger als eine grundlegende Reorganisation unseres sozialen Lebens. Unser Begriff und unser Gefühl dessen, was eine Stadt ist und auszeichnet, ändert sich gerade von Grund auf.“

Für Löw ist der Berliner Kudamm ein Beispiel dafür, wie „Stadt“ schon jenseits von Einkaufstrasse und Business-Distrikt funktionieren kann: als Kondensat des geselligen Lebens - mit Restaurants, Hotels, Galerien, Theatern, Programmkinos und Start-up-Büros, kurz: als ein Ort, der von Menschen „tags und nachts angesteuert wird“. Räume zu schaffen mit Kreuzungspunkten und Knoten; Plätze für Begegnungen, „jenseits der Verwechselbarkeit, die durchaus auch etwas Reibung erzeugen dürfen im Ensemble des Bestands“, sagt Löw, darum ginge es: um die „Charakterbildung einer Stadt“. Friedrich von Borries bringt die urbane Zukunft auf die Formel der „produktiven Stadt“ - und er versteht darunter einen Raum der Mischquartiere mit Werkstätten, Büros, Cafés und personalisierten Ladenlokalen, in denen die Bürger wohnen, arbeiten und konsumieren, sich gut und gern und rund um die Uhr aufhalten: „Wenn schon Stadttouristen in Berlin es in diese Viertel zieht – warum sollte es ausgerechnet Berliner dann noch zum Potsdamer Platz ziehen?“

Gute Frage. Denn das ist die vielleicht die größte Sünde vieler Kommunalpolitiker in den vergangenen zwanzig Jahren: dass sie der Auffassung waren, ihre Stadt müsse vor allem Touristen gefallen - und nicht so sehr ihren Bewohnern. Dass sie ihre Stadt als globale Marke positionierten - und den dauernden Wert des lokalen Marktplatzes unterschätzten. Man könnte es die „Strategie der Entertainment-Architektur“ nennen: Frank O. Gehry brachte Mitte der Neunzigerjahre im nordspanischen Bilbao die Architektur zum Tanzen und avancierte damit zum Pionier eines Städtewettbewerbs um Aufmerksamkeit. Der sprichwörtlich gewordene „Bilbao-Effekt“ prämierte eine Bauproduktion, die auf demonstrativ verblüffende, überwältigende Wirkungen abzielte: wackelnde Wände, schiefe Ebenen, spektakuläre Karambolagen - eine Architektur im Dienst der Werbung, deren Aufgabe darin bestand, einprägsame Logos zu schaffen, Wunschbilder städtischer Identität: „Seht her, so bin ich!“ Der „fotografische Blick“, so Martina Löw, wurde auf diese Weise „zum dominanten Blick in der Stadtwahrnehmung“ - „für Investoren“ wohlgemerkt und „für Touristen“: Stadtpolitik als „Bildpolitik“, denn anders als früher bereisten Besucher Städte heute nicht mehr, um ihre Attraktionen vor Ort und im Original zu bestaunen, sondern um sich das fotografisch und filmisch Vorab-Bestaunte vor Ort und im Original bestätigen zu lassen. Die Folgen waren ein Wettbewerb der Überspanntheiten und eine Serienfabrikation von Solitären, waren eine Originalitätssucht und ein Kreativitätsstress, den die Planer bei der Gestaltung von gemischten Stadtquartieren für ihre Bewohner allzu oft vermissen ließen.

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Also los, noch einmal - worauf warten wir? Klagen wir nicht über Amazon, freuen wir uns über das Ende der Business-Cities mit ihren öden Großraumbüros, nehmen wir die Stadt wieder in Besitz - und sprengen, nun ja: wenigstens gedanklich, die Fußgängerzonen!

Mehr zum Thema: Onlinekonkurrenz und Lockdown zwingen immer mehr Einzelhändler zum Aufgeben. Den Innenstädten droht der Tod. Jetzt sucht die Politik verzweifelt nach Auswegen.

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