Tauchsieder
Es spricht nichts, aber auch rein gar nichts dafür, Menschen in hochmotorisierten Blechkäfigen zu erlauben, mit 200 km/h über Straßen zu donnern, mein WiWo-Textchef Dieter Schnaas. Quelle: imago images

Ich rase, also bin ich – frei?

Die Verkehrskommission der Bundesregierung fordert ein Tempolimit – und schon drehen christliberale Freiheitsfreunde und eine ganze Autonation am Rad. Geht's noch?

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Konjunktureinbruch und Handelsstreit, Brexit-Chaos und verunsicherte Märkte – alles wichtige Themen. Aber was viele Deutsche wirklich aufwühlt ist ein Bericht der Verkehrskommission der Bundesregierung. Das Gremium firmiert als „Nationale Plattform Zukunft der Mobilität“ und empfiehlt mit Blick auf den Klimaschutz unter anderem höhere Steuern auf Diesel und Benzin, eine verpflichtende Quote für Elektroautos sowie ein Tempolimit auf Autobahnen und Landstraßen. Darüber ließe sich diskutieren.

Aber weil die Deutschen nichts so sehr auf die Zinne bringt wie ein halber Euro mehr für den Liter Sprit oder eine drohende Einschränkung ihres leitplankengestützten Aggressionspotenzials, hat sich das Zentralorgan für die Protektion deutscher Asphaltstreifen und Automobilisten („Bild“) sofort eine als Umfrage getarnte Kampagne gestartet, um die Reflexe der Nation zu testen. Genauer: Um die Deutschen ein weiteres Mal daran zu hindern mit sich selbst ins Gespräch über das Für und Wider einer flächendeckenden Geschwindigkeitsbegrenzung zu bringen. Entsprechend haben drei Viertel von rund 165.000 Befragten bis Samstag in der „Bild“ gegen „ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen“ plädiert.

Warum? Nun, wie gesagt, Gründe stehen einmal mehr nicht zur Debatte. Wie auch? Es spricht nichts, aber auch rein gar nichts dafür, Menschen in hochmotorisierten Blechkäfigen zu erlauben mit 200 km/h über Straßen zu donnern. Das wissen auch CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer und die FDP. Weshalb sie in der Verkehrspolitik einerseits besonders agil und flott in Richtung Zukunft unterwegs sind, von „innovativen neue Entwicklungen“ und „intelligenten Verkehrssystemen“ sprechen, nur um ihre Konzepte andererseits in der begründungslosen Ablehnung eines generellen Tempolimits verenden lassen zu können (FDP-Programm) – oder aber in einer pampig raunzenden Hohlphrase: Der Vorschlag für ein Tempolimit sei „eine Nebelkerze, die fachlich nicht den Argumenten standhält“ – behauptet Chefnebelkerzenwerfer Scheuer.

Denn selbstverständlich würde ein generalisiertes Tempolimit die Zahl der Unfälle begrenzen, den Verkehr verflüssigen und auch die Klimabilanz Deutschlands verbessern – wenn auch nur höchst geringfügig, sagen Mobilitätsexperten. Flexible Tempoleitsysteme („dynamische Wegweiser mit integrierten Stauinformationen“) entlasten schon heute Knotenpunkte. Die Vermeidung von Staus ist durch punktuelle Beschränkungen auf 60 km/h oder 80 km/h effektiver; der Klimaeffekt eines Tempolimits auf Autobahnen marginal. Aber das ist noch lange kein Grund fragwürdige Studien gegen ein Tempolimit in Stellung zu bringen, die die Zahl der tatsächlichen Hochgeschwindigkeitsunfälle mit der Zahl potenzieller Unfälle verrechnen – mit Unfällen, die womöglich entstehen, weil gelangweilt-unterforderte Autofahrer auf freier Strecke bei Tempo 130 ihr Großhirn abschalten könnten... Mit Verlaub: Das ist nicht Wissenschaft. Das ist Unsinn.

Wenn aber alles für ein Tempolimit spricht und nichts dagegen, dann bleibt nur noch die Keule der „selbstbestimmten Mobilität“ (FDP) – und es spricht weiß Gott nicht für das Freiheitsverständnis der Christliberalen, dass sie sie sogleich wieder schwingen: Scheuer (CSU) meint die kochende Autovolksseele gleich mit dem Hinweis beschwichtigen zu müssen, seine eigene Kommission habe sich in unabgestimmten Gedankenspielen geübt und einige Debattenbeiträge vorgelegt, die „weder sozial noch wirtschaftlich zu verantworten sind“. Und FDP-Verkehrsexperte Oliver Luksic warnt gar vor revolutionären Umtrieben: Sollten die Vorschläge der Kommission umgesetzt werden, provoziere man womöglich eine „Gelbwestenbewegung“ wie in Frankreich. Wozu argumentieren, wenn sich gegen eine munter herbeihalluzinierte Verbots- und Vorschriftskultur in diesem Land Ängste provozieren und Gefühle mobilisieren lassen? Wozu Gründe anführen, wenn „Freie Fahrt für freie Bürger“ eine Erklärung simuliert, mit der Scheuer, Luksic und die „Bild“ das Land in Rage versetzen können?

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Erledigen wir also schnell die Sache mit der Freiheit und der Selbstbestimmung, wenn es ums Autofahren geht. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat schon vor 30 Jahren darauf hingewiesen, dass die klassische, 1969 von Isaiah Berlin eingeführte, Unterscheidung zwischen negativer Freiheit und positiver Freiheit karikierend defizitär ist: Sowohl die Freiheit von etwas (etwa die Freiheit der Presse vor der Zensur) als auch die Freiheit zu etwas (etwa die Freiheit des Verlegers, zu publizieren, was er meint publizieren zu wollen) bezieht sich nur auf Mögliches, nicht aber auf das zu Verwirklichende – nicht auf eine Freiheit als „Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben“. Taylor versteht Freiheit daher vor allem als eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“ – und es ist leuchtet ein, dass Relevanzurteile dabei eine wichtige Rolle spielen – etwa wenn wir in Europa oder den USA den Wert der „individuellen Selbstverwirklichung“ viel stärker wertschätzen als den Wert der „kollektiven Selbstverwirklichung“ (einer Nation, des Staates, einer Klasse so wie in Russland oder China).

Stellen wir uns vor dem Hintergrund „Demokratie vs. Autokratie“ die Frage, warum wir unsere individuelle Freiheit wertschätzen, erhalten wir schnell das, was Taylor „starke Wertungen“ und „Wünsche zweiter Stufe“ nennt: Manche Wünsche und Ziele erscheinen uns bedeutsamer und gehaltvoller als andere. Wir würden uns für ihre Verteidigung aufopfern und uns im Zweifelsfall für sie und gegen die spontane Gewährung geringer geschätzten Freiheiten entscheiden. Um es an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Die Freiheit eines Autofahrers in Pjöngjang ist mutmaßlich größer als die Freiheit eines Autofahrers in New York. Ganz einfach weil es in Pjöngjang weniger Ampeln und weniger Autos gibt – aber dennoch schätzen wir die „freie Fahrt“ in Pjöngjang geringer als den „freien Bürger“ in New York.

Es sei denn, wir sind Verkehrsminister oder gehören dem organisierten Liberalismus in Deutschland an. Denn in diesem Falle werden beide Freiheiten immer dann kurzgeschlossen, wenn es mal wieder ums Tempolimit geht – wenn das große, liberale, politische Ideal zur „Freiheit“ des Autofahrers geschrumpft wird, um sachgrundlos Stimmung gegen den Verbotsstaat zu machen. Schade um die Diskussion, liebe Autofreunde. Aber vor allem schade um die Sache der Freiheit.

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