Tauchsieder
Quelle: dpa

Intellektueller Ausnahmezustand

Ein bisschen Zuversicht könnte nicht schaden in diesen Corona-Wochen. Statt dessen nerven Küchenphilosophen und Wachstumsfeinde mit abwegigen Klima- und Lebensstil-Debatten. Eine Abrechnung.

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Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat die conditio humana im 17. Jahrhundert mal auf eine schöne Formel gebracht: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ So gesehen, muss man sich Deutschland und die halbe Welt in diesen Tagen als glückserfüllte Orte vorstellen. Stadien und Schulen schließen, Hallen und Theater, Kinos und Clubs – und Bundeskanzlerin Angela Merkel rät den Deutschen, Pascal beim Wort zu nehmen, wann immer möglich, auf Sozialkontakte zu verzichten. Und? Heißt das nun, mit gründlich banalisierten Aperçus von Carl Schmitt und Theodor Adorno gesprochen: Souverän ist, wer sich im Corona-Ausnahmezustand dafür entscheidet, ein richtiges Leben im falschen zu führen? Wer sich also, durch äußere Umstände glücklich aus der Bahn geworfen, seines jagenden, erobernden, egoistischen und materialistischen, kurz: seines grundfalsch konsumkapitalistischen Bewusstseins bewusst wird und endlich zur Besinnung kommt? Der im Angesicht des Todes plötzlich die Kürze des Lebens schätzen lernt – und damit das, was wirklich wichtig ist: Liebe, Zeit, Mitmenschlichkeit und Seelenruhe?

Wenn der Normalfall suspendiert ist, neigen viele Kulturwissenschaftler, Philosophen und Soziologen zu besonders romantisch-lebensfernen Weltbetrachtungsweisen. Sie stellen sich in Rekurs auf Niklas Luhmann dann gern als „Beobachter zweiter Ordnung“ vor, also als Menschen, die Beobachter beim Beobachten beobachten – die sehen, wie „Beobachter erster Ordnung“ sehen, was sie sehen, also gewöhnliche Virologen, Ärzte, Politiker, Ökonomen und Aktienhändler zum Beispiel. Während diese auf der Weltbühne agieren und dabei gleichsam mit ihren Rollen beschäftigt sind, werfen jene einen auktorial registrierenden, allwissend rezensierenden Blick auf das Weltbühnen-Geschehen – wohl wissend, dass sie als Registrierende und Rezensierende, anders als im Theater, nicht nur als Zuschauer im Parkett sitzen, sondern zugleich Teil des Weltbühnengeschehens sind – wie klug! Und wie ertragreich! Denn das Sonderwissen, das „Beobachter zweiter Ordnung“ sammeln, markiert feine Unterschiede und stärkt das Distinktionsbewusstsein: Nur wer eine Doppelrolle als Beobachter der Beobachter und beobachtender Beobachteter innehat, durchschaut mit den gewöhnlichen Rollenspielern und dem Weltbühnengeschehen auch sich selbst, blickt als exzentrisch Beteiligter besser durch als alle anderen – blickt überhaupt durch.

Im Extremfall führt das dazu, dass man als Kulturwissenschaftler zum Opfer (s)eines stark empfundenen Zeitgefühls wird. Der französische Soziologe Jean Baudrillard etwa hat das „Ende der Geschichte“ (bereits fünfzehn Jahre vor Francis Fukuyama) als medial auf Dauer gestellte Welt-Simulation durchschaut: als entleerte Welt, in der permanent was passiert, aber nichts mehr geschieht, deren Wirklichkeit sich im Widerschein der Medien vollzieht und deren erregte Ereignishaftigkeit uns auf Fernsehschirmen und Monitoren nur noch als sedierende Bilderfolge begegnet. Baudrillard hielt die Kopien des Weltgeschehens für realer als das Weltgeschehen selbst, und man konnte sich als Leser schier berauschen an der Suggestivkraft seiner Diagnose, dass dem massenmedial glattgebügelten Menschen keine Position mehr verstattet ist, von der aus er kritisch auf sich selbst und die Welt blicken könne – dass er in Routinen gefangen sei, sich in der „Hölle des Immergleichen“ nurmehr selbst simuliere. Kurzum: Baudrillard lesen war besser als kiffen. Nur leider waren die Sinne Baudrillards dann auch am 11. September 2001 komplett vernebelt. Er feierte die Terroristen als Konterrevolutionäre, die mit der Wucht der zwei Flugzeuge den „terreur“ unserer Scheinwelt zertrümmern, uns mit dem Einsturz der beiden Türme des New Yorker World Trade Centers auf den Boden der Tatsachen zurückholen würden: Wie gut, dass Osama bin Laden unsere erbärmlich entleerte Konsumgesellschaft und das Gleichförmigkeitsdiktat einer kulturkolonialen USA in die Luft sprengt!

Ausnahmezustand Coronavirus

Was uns zu der Frage führt, auf welche Abwege uns die professionellen Chefbeobachter diesmal führen werden, also im Ausnahmezustand, den nicht der Terrorismus, sondern das neuartige Coronavirus über unsere Gesellschaft verhängt. Richard David Precht, von Peter Sloterdijk mal sehr zu Recht als Andrè Rieu der Branche gewürdigt, weist schon mal die Richtung: Er findet es „sehr sehr spannend“, dass eine „sehr kleine Bedrohung“, etwas „vergleichbar Harmloses“ wie das Coronavirus einen Staat auf den Plan ruft, der eingreift, verbietet und klare Grenzen setzt – dass also plötzlich etwas möglich ist, was „angesichts der ganz großen Menschheitsbedrohung“ des Klimawandels bisher nicht möglich schien: „Das weckt den Sinn für das Nachdenken.“ Wobei es mit dem Nachdenken nach zehn Sekunden schon wieder vorbei ist, denn Precht weiß das Nachgedachte umgehend als Gewissheit zu fassen, „dass die Leute mehr Angst um ihr Leben haben als um das Überleben der Menschheit“.

Donnerwetter. Von Precht lernen, heißt die Welt besiegen lernen – durch sie hindurch zu blicken auf das, was in diesen Wochen wirklich ist und zählt. Vergesst daher erstens die medizinischen Experten, die euch jeden Abend im Fernsehen ein klitzekleines Erkältungs-X für ein riesengroßes Pandemie-U vormachen - und vertraut den Küchenphilosophen! Zweitens: Ängstigt Euch nicht angesichts der realen und konkreten Gefahr des individuellen Organversagens, sondern lernt endlich, für euch und eure Kindeskinder, das beherrschbare und diffuse Risiko des apokalyptischen Kollektivtods fürchten! Und drittens: Verratet bitte niemandem, dass die Kausallage beim Klimawandel hochkomplex ist und eine internationale Koordinationsleistung erfordert, an der politische Verantwortliche seit Jahrzehnten arbeiten – während die Kausallage des Corona-Problems (unbekanntes Virus; Gefahr vor allem für ältere Menschen) eindimensional ist und den Staat daher, gedacht als Institution des Selbstschutzes seiner Bürger, zu einer spontan entschlossenen Reaktion geradezu nötigt.

Man sieht: Die Reflexe ambiguitätsintoleranter Antikapitalisten, Kulturpessimisten und Wachstumsfeinde funktionieren auch in diesen Corona-Wochen prächtig. Es ist ja auch herrlich leicht. Man schaltet erstens den Sinn ab für die Vorzüge eines zivilisatorischen Fortschritts, der einem in den hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften des Westens überhaupt erst die Möglichkeit verschafft hat, sich auf die Rolle eines „Beobachters zweiter Ordnung“ zurückzuziehen und kritisiert dann, krisenermuntert, die Expansionslogik und das Steigerungsspiel derselben liberalen Wirtschaftsordnung, deren Ausdifferenzierung wir „als Menschheit“ etwa Gesundheitssysteme verdanken, die uns „überhaupt erst in die Lage versetzen, die (typisch vormoderne) Gefahr einer Pandemie (typisch modern) in das Risiko ihrer Beherrschung oder Nicht-Beherrschung zu übersetzen. Denn man muss ja, auf diesem Beobachter-Posten, keine Entscheidungen treffen, wie schön, sondern bloß, wie Svenja Flaßpöhler, kopfschüttelnd auf das Getümmel der Überforderten herabblicken, die Impfstoffe erforschen und Krankenbetten bereitstellen, Schulen schließen, Veranstaltungen verbieten und Arbeitsplätze retten: Zu früh! Zu spät! Zu wenig! Zu viel! Und vor allem: Wozu das alles, wenn es nicht dem Klima hilft, uns keinen Weg aus der materialistischen Selbstversklavung weist?

Nein, nein, liebe Chefbeobachter: Es geht jetzt nicht ums Innehalten und Im-Zimmer-bleiben, nicht um ein „Es geht doch“ mit Blick auf bereinigte Klimadaten, weil Inlandsflüge und Geschäftsreisen ausfallen und globale Lieferketten unterbrochen sind. Und schon gar nicht geht es darum, die eigenen, aufwendig hergeleiteten Verschwörungstheorien abzudichten, so wie es etwa der italienische Staatsphilosoph Giorgio Agamben tut, wenn er die „hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmaßnahmen“ kritisiert, „die wegen einer mutmaßlichen Epidemie des Coronavirus ergriffen werden“ - nur um dem Staat vorwerfen zu können, mit der „Erfindung einer Epidemie“ ein „Klima der Panik“ zu schaffen, das es ihm erlaubt, „den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma“ zu etablieren - und sich totalitäre Macht anzumaßen. Nein, nein, liebe Chefbeobachter, spart euch bitte eure Besinnungsaufsätze über totalitäre Demokratien und klimafreundliche Stillstandsrepubliken – Corona ist kein Stromausfall, der uns daran erinnert, dass im Kerzenschein schön kuscheln ist. Und schon gar kein geeigneter Ausgangspunkt für weltfremde Verzichtsdiskurse. Das Virus wird die Welt in vielerlei Hinsicht verändern, keine Frage. Es wird die Re-Regionalisierung der Wirtschaft vorantreiben und Politiker mit gemäßigtem Temperament protegieren, es wird uns zum Nachdenken über „die Macht des Schicksals“ anregen und über die Grenzen „offener Gesellschaften“, über Menschheitsprobleme, die wir nur gemeinsam, als „Menschheit“ adressieren können – und auch darüber, dass wir dieselbe „Natur“ als bedrohlich empfinden, deren größte Bedrohung wir zugleich sind.

Aber in diesen ersten Wochen der Krise, liebe Chefbeobachter, kommt es ausnahmsweise nicht auf euch an. Es geht in diesen Wochen nur um die, die mitten auf der Bühne stehen und agieren und damit völlig ausgelastet sind: um Experten, Regierende und Arbeitende, denen wir Vertrauen schenken, um Wissenschaftler, die nach Impfstoffen fahnden und Ärztinnen, die Leben retten, um Manager, die ihre Unternehmen auf Kurs halten, und Polizisten, die die Ordnung sichern, um Verkäufer, die uns bedienen und Politikerinnen, die mit entschlossener Besonnenheit das Nötige tun, die Alte schützen und die Wirtschaft stützen – und die dafür sorgen, dass die „Beobachter zweiter Ordnung“ schon bald wieder in den Genuss kommen, uns für einen schlauen Aufsatz über Blaise Pascal zu interessieren.

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