Tauchsieder
Billig wohnen, billig fliegen, billig essen? Grün wählen muss man sich leisten können? Wahlkampf auf Wühltischniveau. Quelle: imago images

It’s the consumer, stupid!?

Billig wohnen, billig fliegen, billig essen? Grün wählen muss man sich leisten können? Wahlkampf auf Wühltischniveau. Eine kleine Kritik des billigen Konsumentenpopulismus – im Blick zurück auf die Kaiserzeit.

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In den späten 1890er Jahren ist die Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Lily Braun bei den Bebels eingeladen. Braun bewundert SPD-Chef August Bebel „als Vorkämpfer des Sozialismus“, als Mann mit Sinn für die Frauenfrage und „um seiner Menschlichkeit willen“. Sie ist tief vertraut mit dessen Frau, drückt Julie bei einem Treffen wenige Tage zuvor „die mütterlich-weibliche Hand“ und lässt sich von ihr die Wange streicheln. Kein Wunder, dass Braun dem Abendessen „mit erwartungsvoller Freude“ entgegen sieht: Sie brennt auf eine „Gesellschaft freier Geister, die die höchsten Ideale der Menschheit vertreten“. Doch der Abend wird für sie zu einer einzigen Enttäuschung. Braun darf zwar „den Ehrenplatz neben Bebel“ einnehmen. Aber das Gespräch bei Tisch dreht sich bloß um Parteiaffären, die Lily Braun langweilen, und die Herren der Schöpfung mustern die sozialistische Adelstochter wie eine Jahrmarktssensation, rezensieren die Bannerträgerin des Frauenwahlrechts mit altväterlichem Hochmut. So richtig ärgerlich wird der Abend für Lily Braun aber erst nach „Fisch und Braten“, erinnert sie sich in ihren Memoiren: „Nach ein paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer genötigt. Die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Esstisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten… Fragen von allgemeinem Interesse wurden nicht berührt.“

Der Düsseldorfer Historiker Christoph Nonn liebt solche Geschichten, in denen das Doppelsinnige sich in den Vordergrund drängt und das Uneindeutige ins Rampenlicht tritt: Er stellt uns die Sozialdemokratie in seiner „Geschichte des deutschen Kaiserreiches“ nicht nur als Partei der Emanzipation und Fortschritts dar, die für die Rechte der Arbeiter kämpfte und nie mit Bismarck paktierte, deren Mitglieder drangsaliert, eingesperrt und mit Berufsverboten belegt wurden, nur weil sie für mehr Lohn und Brot für ausgebeutete Arbeiter forderten. Sondern auch als Partei, die in den „Echoräumen“ ihrer Vereine lieber Luftschlösser pflegte, den „großen Kladderadatsch“ herbeisehnte und von der Diktatur des Proletariats träumte – die lieber eine „Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit“ ausbildete statt Gestaltungswillen zu bekunden. Als Partei, in denen die Männer den Ton angaben, weil Frauen „die Neigung“ hätten, „über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltung zu führen“ und von „Eifersucht“ geplagt seien „gegen ihre Geschlechtsgenossinnen“ (so Bebel 1879) – oder auch nur „zu dumm, um in Versammlungen die Referate zu verstehen“ (so ein Parteitagsdelegierter 1906). Und als Partei, die im Dunstkreis alkoholseliger Männer-Versammlungen lange Zeit keinen Sinn entwickelte für die politische Bedeutung von Konsumenteninteressen: „Brot-, Fleisch- und Milchpreise“, schreibt Nonn, „waren, im übertragenen wie im einfachen Wortsinn, ‚nicht ihr Bier’“.

Auch Lily Braun irrte also, wenn sie die „Fleischpreise“ damals nicht „Fragen von allgemeinem Interesse“ zurechnete. Fleischpreise waren damals „potenziell politische Preise“, schreibt Nonn – viel mehr als Mietpreise, Benzinpreise und Flugpreise es heute sind: „Die Ausgaben für Nahrungsmittel machten noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs gut die Hälfte eines durchschnittlichen deutschen Familienbudgets aus. Davon entfiel wiederum mehr als die Hälfte auf Fleisch, Wurst und andere tierische Produkte.“ Die Gründe dafür, dass die SPD die Fleischpreise bis in die 1890er Jahre hinein nicht wirklich auf den Schirm hatte, sind vielfältig: Sie entstand (auch) als Partei der gut ausgebildeten Handwerker mit einem hohen Selbsthilfe-Ethos. Sie verstand sich primär als Partei der Produzenten und Werktätigen, die „ehrliche Arbeit“ verrichteten. Und die Preise für Nahrungsmittel sanken zunächst im langfristigen Mittel. Erst als sich der Trend Ende der Neunzigerjahre umkehrte und die Zahl der Arbeiter in den wuchernden Industriezentren der Städte zugleich explodierte, mobilisierte die SPD „die Verbraucher“ gegen die Schutzzollpolitik der mächtigen, regierungsnahen Agrar-Aristokraten.

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Natürlich sind „Produzenten“ und „Konsumenten“ Idealtypen: Man trifft sie in der Wirklichkeit nicht an. Menschen sind immer „Produzentinnen“ und „Konsumenten“ – so wie die meisten Menschen heute immer auch „Autofahrerinnen“ und „Fahrradfahrer“ sind, weil sie eben manchmal Auto und manchmal Rad fahren. Aber dieses Beispiel zeigt eben auch, dass es politisch relevant ist, aus wessen Perspektive man bevorzugt auf die Welt blickt: Viele Autofahrerinnen möchten als „Autofahrerinnen“ etwa ein Tempolimit verbieten, während viele Fahrradfahrer als „Fahrradfahrer“ etwa Autos aus den Städten verbannen wollen.

So oder so gilt: Mit der politischen Realisierung seiner Präferenzen darf rechnen, wer für sie eine Mehrheit findet. Was nun das Verhältnis von „Produzenten“ und „Konsumenten“ anbelangt, lässt sich zunächst festhalten: Die Waage neigt sich letzteren zu. Zu den Gründen zählen die historisch beispiellose Expansion der „Freizeit“ im 20. Jahrhundert, die stilbildende Fulfillment-Perfektion von Immer-vom-Kunden-her-denken-Konzernen wie Amazon („One-Click“) und natürlich eine Sozialpolitik, die Bürger behandelt wie Kunden mit Schadenersatzansprüchen. Die Folgen sind nicht trivial: Wer glaubt ein (Menschen-)Recht auf Freibeträge und Kindergartenplätze, auf Homeoffice und Ganztagsbetreuung, auf Teilzeit und bezahlbare Mieten zu haben, kann von „Vater Staat“ nurmehr enttäuscht werden: Glauben die Parteien, voran Linke, SPD und Grüne, sie könnten an der Wahlurne Dankbarkeit für Leistungen erwarten, von denen sie bei jeder Gelegenheit behaupten, der Bürgerkunde habe einen moralischen Anspruch darauf?

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Union und FDP wiederum unterhalten ein schizophrenes Verhältnis zu „Produzenten“ und „Konsumenten“: Sie wollen Arbeitern und Angestellten zwölf Euro Mindestlohn vorenthalten –- und ihn vor jedem Cent Mehrkosten an Tankstelle und Billigfleischtheke schützen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ätzt: „Grün wählen muss man sich leisten können.“ SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz höhnt: „Wer jetzt einfach immer weiter an der Spritpreisschraube dreht, der zeigt, wie egal ihm die Nöte der Bürgerinnen und Bürger sind.“ Und Sahra Wagenknecht (Die Linke), klar, geißelt die „unsoziale und armselige“ Klimapolitik der Grünen: „Die Reichen“ würden eine Erhöhung der Benzinpreise „kaum spüren“, wer hingegen „arm“ sei und nicht zentral wohne, sei nun einmal auf das Auto angewiesen.

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