Tauchsieder

It’s the people, stupid!

Die katholische Soziallehre ist weder kohärente Theorie noch exakte Wissenschaft. Aber sie ist besser als so ziemlich alles, was je im Namen einer vulgärliberalen Verhimmelung des Kapitalismus und seiner linkskollektiven Dämonisierung aufgeschrieben wurde. Heute wird sie 125 Jahre alt. Eine Würdigung.

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Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

In fast jedem Beitrag über die „Soziale Marktwirtschaft“ taucht irgendwann der Name von Alfred Müller-Armack auf. Das ist nur recht und billig. Der rheinische Nationalökonom und Kultursoziologe hat den Begriff vor 70 Jahren in „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ geprägt, den Deutschen einen „dritten Weg“ zwischen Liberalismus und Sozialismus aufgezeigt – und der jungen Bundesrepublik damit gleichsam ihr wirtschaftspolitisches Grundgesetz eingeschrieben.

In fast keinem Beitrag über die „Soziale Marktwirtschaft“ indes fällt der Name von Vincenzo Gioacchino Pecci. Und das ist skandalös. Denn der italienische Kirchenjurist und Theologe hat als Papst Leo XIII. vor 125 Jahren den Grundstein zur katholischen Soziallehre gelegt, ohne deren Impulse es die „Soziale Marktwirtschaft“ nicht gegeben hätte.

Mehr noch: Rerum novarum, „gegeben zu Rom bei Sankt Peter am 15. Mai 1891“ und die päpstlichen Rundschreiben, die seither auf die „Mutter aller Sozialenzykliken“ Bezug nehmen, sind bis heute fundierter und aktueller als so ziemlich alles, was je im Namen einer vulgärliberalen Verhimmelung des Kapitalismus und seiner linkskollektiven Dämonisierung formuliert wurde.

Der Schlüssel zur katholischen Soziallehre ist das in drei sperrige Leitbegriffe („Personalität“, „Solidarität“, „Subsidiarität“) aufgefächerte Verständnis von der Würde des Menschen unter der Bedingung des Industriekapitalismus. Die Analyse von Leo ist so schonungslos wie die von Karl Marx oder Émile Zola, der der „Arbeiterfrage“ erst sechs Jahre zuvor im „Germinal“ ein unsterbliches literarisches Denkmal gesetzt hatte. Leo prangert an, dass „wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen“ - und dass „Unzählige ein wahrhaft gedücktes und unwürdiges Dasein führen“.

Anders als die Sozialisten jedoch, die die Besitzlosen „zur Hebung dieses Übels“ gegen „die Reichen aufstacheln“, ist Leo ganz und gar nicht davon überzeugt, dass Arbeitern mit der Abschaffung des Privateigentums geholfen sei. Im Gegenteil. Wer dem Menschen die Fähigkeit raube, sein „kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch Fleiß zu einer besseren Stellung emporzuringen“, so Leo, schwäche seine sittlichen Antriebskräfte und versündige sich an dessen Natur.

Papst Pius VI. hat den Gedanken 1931 in Quadragesimo anno auf die Formel zugespitzt, dass „christlicher Sozialismus“ ein Widerspruch in sich sei. Ein Mensch, nach katholischer Auffassung „von Gott geschaffen, um (sich) in der Gesellschaft… zur ganzen Fülle und zum ganzen Reichtum dessen, was Gott an Anlagen in ihn hineingelegt hat, zur Ehre Gottes zu entfalten“, könne nicht im Namen eines kollektiven Nutzens aggregiert werden, ohne seine Personalität und Würde zu verlieren.

Die gehaltvolle „Personalität“ der katholischen Soziallehre widerspricht aber nicht nur der „geistigen Leere“ eines Wirtschaftssystems, das den Menschen das Recht auf wirtschaftliche Freiheit vorenthält, sondern auch der „Vergötzung des Marktes“ und der „Vorherrschaft des Kapitals“, so Johannes Paul II. in Laborem exercens (1981) und Centesimus annus (1991). Wer „den Marxismus auf der Ebene eines reinen Materialismus zu besiegen“ glaubt, warnt der Papst kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, mache das „Erkennen und Anerkennen einer Werthierarchie im Leben geradezu unmöglich“.

„Die Arbeit hat den Vorrang vor dem Kapital“

Dahinter steht die Einsicht in die Elementartatsache, dass keine „Selbstverwirklichung“ im Alleingang gelingen kann, sondern nur in mitmenschlicher Solidarität. Dass die individuelle Freiheit selbstverständlich an der individuellen Freiheit des Nächsten ihre Grenzen findet. Und dass das Recht auf Inbesitznahme durch Arbeit allein denkbar ist, wenn man die Sozialgebundenheit allen Eigentums mitbedenkt. Schließlich sind die Erde und deren Güter, so der schöpfungsökologische Grundgedanke, „dem ganzen Menschengeschlecht gegeben“.

Weil es diese Güter aber nicht in unbegrenzter Fülle gibt, braucht es „eine bewusste Antwort des Menschen auf die Gabe Gottes“, ein „wirtschaftliches Gemeinschaftswerk“, so die katholische Soziallehre: die auf viele Schultern verteilte Arbeit. Sie sei einerseits mit Blick auf das Ziel zu organisieren, dass die Erdengüter allen zugute kommen (was am erfolgreichsten geschehe, wie gesagt, wenn sie in persönlicher Verantwortung bewirtschaftet werden) - und andererseits mit Blick auf die Würde und Rechte jedes einzelnen Menschen: „Die Arbeit hat den Vorrang vor dem Kapital“, heißt es lakonisch in Laborem exercens.

Vielleicht das Erstaunlichste an der Ethik der katholischen Soziallehre ist, dass ihr zeitgebundenes Schrifttum keine Theorie ergibt, aber dennoch von zeitloser Kraft und globaler Bedeutung ist.

Der Politologe Carsten Frerk fordert ein Ende der Privilegien für die christlichen Kirchen und plädiert dafür, sie wie Wirtschaftsverbände zu behandeln.
von Christian Schlesiger

Leos Einspruch gegen die existenzielle Not von Arbeitern, für Lohngerechtigkeit und politische Intervention ist mit Blick auf die Lebensbedingungen etwa in Bangladesch hochaktuell. Die sozialökologische Dimension des Eigentums wird heute auf internationalen Konferenzen unter den Stichworten Allmende, Klima und Generationengerechtigkeit diskutiert. Und die „Würde der Arbeit“ macht im reichen Westen als Wunsch nach Sinn und Selbstveredelung oder auch in der Aufwertung alles Handwerklichen eine zweite Karriere.

Selbst die „Subsidiarität“, das altföderale Prinzip, das den Wert der kleineren Einheit preist, hat angesichts der Geldkonzentration an der Wall Street, der Machtkonzentration im Silicon Valley und der Bürokartiekonzentration in Brüssel seine größte Zukunft wohl noch vor sich. Der Gedanke jedenfalls, dass es, wie man sagt, „so nicht weitergehen kann“, ist angesichts eines entmenschlicht-anonymisierten, im Schatten seiner Derivate und Algorithmen operierenden Börsenkapitalismus, weit mehr als nur ein diffuses Gefühl.

„Diese Wirtschaft tötet“, hat Papst Franziskus vor zweieinhalb Jahren in Evangelii gaudium geschrieben - und damit einen Geldismus verurteilt, in dem Ausgeschlossene nicht mehr wie „Ausgebeutete, sondern wie Müll“ behandelt werden. Wenn Franziskus damit (auch) gemeint hat, dass der (real)wirtschaftende Mensch im Selbstverständnis der Wall Street nicht mal mehr Ressource ist, sondern im Zweifel nur noch etwas Überflüssiges, Wertloses, dann trifft er damit einen höchst empfindlichen Punkt.

Kann es sein, dass mit dem zivilisatorischen Fortschritt auch die algorithmisch gestützte Entmenschlichung der Wirtschaft fortschreiten wird? Die katholische Soziallehre, so viel scheint sicher, wird uns darüber auch in den nächsten 125 Jahren auf dem Laufenden halten.

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