Tauchsieder

Genossen können auch anders

Seite 2/2

Keine Mittel an Investoren

Raiffeisen unterscheidet sich in diesem Punkt erheblich von Hermann Schulze-Delitzsch (1808 - 1883), dem zweiten  Vater der Genossenschaftsidee. Der Sachse findet nichts dabei, dass nicht nur „das Gemeinwohl“, sondern vor allem auch die Mitglieder seiner Produktionsgenossenschaften und Sparvereine von ihrem Willen zur Zusammenarbeit profitieren. Er stellt die Interessen des kooperativen Einzelnen in den Vordergrund und versteht unter Eigentum eine anthropologische Ressource, die es allen Menschen buchstäblich erlaubt, ihre eigenen, wenn auch kleinen Reserven zu mobilisieren. Schultze-Delitzsch ist in diesem Punkt zweifellos moderner als Raiffeisen, denkt mehr von den Interessen der Anteilseigner her. Aber beiden gemeinsam ist: „Es fließen keine Mittel an Investoren ab“, sagt Ökonomin Theresia Theurl, Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Das ist der zweite Kerngedanke des Genossenschaftsprinzips: Wir können wirtschaftliche Ziele nicht nur egoistisch und konkurrenzgetrieben verfolgen, in einem wölfischen Kampf um knappe Güter, sondern auch partnerschaftlich, aus mehr oder weniger geteilten, egoistischen Interessen, in kooperativer Zusammenarbeit und mit Blick auf die Schonung geteilter Ressourcen. Deutet sich hier tatsächlich ein Ausweg aus dem Maximalisierungsimperativ des Kapitalismus an - und aus der neoplutokratischen Machtkonzentration in der Hand von globalen Digital- und Finanzkonzernen? 

Jedenfalls stellt die Genossenschaftsidee nicht den ich-zentrierten homo oeconomicus ins Zentrum einer arbeitsteilig ausdifferenzierten und global vernetzten Gesellschaft, in der jeder Mensch mehr denn je auf den anderen verwiesen ist, weil es in ihr zunehmend knappe Güter gibt, die sich sinnvoll nur noch gemeinsam bewirtschaften lassen (Kima, Natur, Wasser). Statt dessen werben Genossen für ein Wirtschaften auf der Grundlage allgemeiner Interessen: Ihr Ideal ist der vernunftbegabte Mensch, der keinen kollektivsingulären Systemzwängen (die Globalisierung, der Wettbewerb…)  unterworfen ist, sondern im wohlverstandenen Eigeninteresse partnerschaftlich handelt.

Der Clou liegt darin, dass ein Genosse sich dabei als plurales Wirtschaftssubjekt begreifen muss - dass er sein Handeln notwendig an sich selbst als Investor und Mitarbeiter und Kunde und Mitglied eines Gemeinwesens adressiert. Dadurch verschieben, vergrößern und verallgemeinern sich seine Interessen und Anreize: Sie reichen über die des Arbeitgebers am nächste Quartalsergebnis und über die des Arbeitnehmers an mehr Gehalt und einer besseren Work-Life-Balance hinaus - und fokussieren sich etwa auch auf Allmendegüter, die im ökonomischen Alltagsleben keinen Preis haben und nur gemeinsam sinnvoll bewirtschaftet werden können.

Es spricht also tatsächlich viel dafür, dass die Genossenschaftsidee - vor zwei Jahren von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt - ihre beste Zeit noch vor sich hat. Genossenschaften boomen in Deutschland,  vor allem im Banken-, Agrar-, Energie- und Wohnungssektor; ihre Zahl hat sich von 5470 (2004) auf mehr als 8000 erhöht. Andererseits gilt: Ausgerechnet die wichtigsten, größten Genossenschaften haben sich sehr weit entfernt von ihrer Grundidee, sind organisatorisch stark zentralisiert. Die Impulse der Geschäftspolitik bei den Handelskonzernen Rewe und Edeka etwa gehen natürlich nicht mehr von den selbständigen Einzelhandelskaufleuten aus, die sich zum koordinierten Einkauf von Lebensmitteln zusammengeschlossen hätten - sondern von einer Geschäftszentrale, die den üblichen Management-Regeln folgt. Überspitzt gesagt, heißt das: Hier nähern sich die Genossenschaften von unten einem liberalen Franchising von oben an.

Zweitens sind rund 17 der 22,5 Millionen Genossen in Deutschland Mitglieder der Volks-und Raiffeisenbanken. Und in deren Auftrag wirtschaften Fondsmanager nicht unbedingt nachhaltiger, regionaler und verantwortungsbewusster.  Sondern sie folgen derselben Marktlogik und denselben Renditeinteressen wie andere Fondsmanager auch. Die DZ-Bank, das Zentralinstitut von 1000 Kreditgenossenschaften, konnte 2017 einen Gewinn von 1,1 Milliarden Euro nach Steuern vermelden - ein ausgezeichnetes Ergebnis. Das kann damit zu tun haben, dass hier nicht Investoren, Pensionsfonds und Großaktionäre das Sagen haben, sondern Millionen Anteilseigner ein breit gestreutes Vermögen in die Waagschale werfen. Oder aber auch damit, dass die DZ-Bank mit etwa 404 Millionen Dollar bei Northrop Grumman engagiert ist, einem US-Rüstungshersteller, der unter anderem Interkontinental-Raketen für das US-Atomwaffenarsenal herstellt. So jedenfalls steht es in der aktuellen Studie „Don't Bank on the Bomb“ der Kampagne für ein Atomwaffenverbot (Ican) und der Nichtregierungsorganisation Pax.

Ihr größtes Potenzial dürfte die Genossenschaftsidee daher nicht im Handels- und Bankensektor, sondern durch ihre technologische Entgrenzung zur Sharing Economy entfalten. Wenn sich die Menschen für sie begeistern lassen. Jedenfalls spricht viel dafür, dass sich die Kapitalismusfrage in den nächsten Jahren zuspitzen wird: Werden in 50 Jahren monopolartige Big-Data-Konzerne dafür sorgen, dass wir, abgespeist mit einem Grundeinkommen, mit selbstfahrenden Leihautos an die Ostsee fahren, um in ausgedruckten Co-Living-Apartments Urlaub zu machen? Oder werden wir neogenossenschaftliche Plattformen mit geteiltem Kapital und kollektiven Interessen entwickeln, um auf der Basis geringer Grenzkosten mit dezentralen Arbeits-, Mobilitäts- und Wohnungsgenossenschaften gemeinsame Sache machen? Die praktizierte Genossenschaftsidee – ein schöneres Denkmal ließe sich Raiffeisen zum nächsten Jahrestag sicher nicht setzen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%