Tauchsieder

Koalition der Kümmerer

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet Jamaika arbeitet an der Vollendung von „Vater Staat“ zum volksfürsorglichen Großprojekt. Die nächsten vier Jahre stehen im Zeichen des Designs vom „guten Leben“.

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Jamaika-Koalition: Beginn der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grüne in Berlin. Quelle: REUTERS

Die Erosion des Rechtsstaates war bekanntlich das, was der philosophierende Republikaner Immanuel Kant am meisten fürchtete. Ohne allgemein verbindliche Regeln können Individuen sich in liberalen Gesellschaften nicht sicher fühlen und sich daher auch nicht „frei“ entfalten, so Kant: Gerechtigkeit herrscht, wenn der Staat mit seinen Institutionen dafür sorgt, dass jeder Mensch seinen Grundanspruch auf ein selbstverantwortetes Leben unter dem Schutz verbindlicher Gesetze durchsetzen kann. Oder mit Kant selbst gesprochen: Das Recht ist der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann".

Nun ist es im Zuge des expandierenden Wohlstandswachstums seit Ende des Zweiten Weltkriegs modisch geworden, das republikanische Ideal von Kant (Rechtsgleichheit ist basale Gerechtigkeit und damit elementare Voraussetzung für ein gelingendes Miteinander) umfangreich zu ergänzen. Der Staat baute Sozialsysteme auf, schuf Anspruchsmentalitäten und riesige, sich selbst nährende Umverteilungsmaschinen. Und die Gesellschaften des Westens verlegten sich darauf, gemeinsame Vorstellungen von einem „guten Leben“ zu entwickeln. Doch der Liberalismus des Westens produzierte keinen sozialen Kitt, wie gewünscht, sondern er prämierte bloß schwache Formen der Toleranz: Er hielt seine Bürger zur - nötigenfalls stillschweigenden - Duldung des „Anything goes“ an, aber er trainierte nicht das Aushalten von Differenz, den teilnahmsvollen Umgang mit dem radikal Anderen, dem Fremden und Unzeitgemäßen. Weshalb der liberale Rechtsstaat, wie bekannt, seit einigen Jahren angefangen hat, seine eigene Grundlage aufzuzehren.

Was also wäre anno 2017 die Vorstellung von einem „guten Leben“, auf die sich alle Individuen unabhängig von ihren persönlichen Präferenzen einigen könnten?

 

An Antworten auf diese Frage mangelt es zum Auftakt der Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen leider nicht. Im Gegenteil: Jede Partei weiß nur zu gut, was uns glücklich macht: weniger Flüchtlinge (CSU) und mehr Heimatgefühl (CDU), weniger Feinstaub (Grüne) und mehr Computer für Grundschüler (FDP) zum Beispiel. Schlimmer noch: Die Programme der Parteien quellen geradezu über vor Ideen für ein Land, in dem wir besser und lieber leben sollen als je. Die Förderung des ländlichen Raums (CSU) und bezahlbare Wohnungen in den Großstädten (CDU), Investitionen in die E-Mobilität (Grüne), und das vollständige Stopfen aller Mobilfunklöcher (FDP) – ausgerechnet ein pastellgrünbürgerliches Bündnis arbeitet an der Vollendung von „Vater Staat“ zum volksfürsorglichen Großprojekt. Die vier Jamaika-Parteien kleiden die „Anliegen der Bürger“ in das Narrativ der Sorge, übersetzen den „Wählerauftrag“ in einen positivistischen Metadiskurs, in dem von lauter  Riesenchancen und -herausforderungen die Rede ist - und gerieren sich im Übrigen als Super-Kümmer-Koalition, die uns mehr Bildung, Digitalisierung und Klimaneutralität schenken wird.

Bündnis der Wohltaten

 

Dabei wäre am meisten gewonnen, wenn sich die angehenden Koalitionäre in den nächsten Monaten nicht mit dem „guten Leben“ beschäftigen würden, sondern auf eine Rekombination republikanischer Grundsätze im Sinne Kants - und eine entschlossene Sozialpolitik. Denn anders als die Beteiligten uns weismachen wollen, hängt der Erfolg der Verhandlungen keineswegs davon ab, ob sich genügend Kompromisse finden, im Gegenteil: Die Deutschen wünschen sich kein Bündnis der addierten Programme und aggregierten Wohltaten. Sondern sie wünschen sich eine Koalition der nachholenden Selbstverständlichkeiten.

Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehörten zum Beispiel: eine großzügige Aufstockung des Personals bei Polizei und Justiz; eine entschlossene Bekämpfung der vor allem in Großstädten offensichtlich gewordenen Kriminalität; eine effizientere Rechtsdurchsetzung bei Abschiebungen; eine verbindliche Bleibeperspektive (plus Familiennachzug) für anerkannte Asylbewerber und (einen Kreis von) Kriegsflüchtlingen; die steuerliche Gleichstellung von Großkonzernen wie Amazon und Google und das konsequente Schließen von Schlupflöchern, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags als „provisorische“ Steuer für den Wiederaufbau der neuen Länder; eine Art Marshallplan für die Modernisierung von Schulen und Straßen – oder allgemein gesprochen: Dazu gehörten alle Projekte zur Rückgewinnung der steuerzahlenden Mitte, die von ihrem Staat vor allem die grundlegendsten aller Leistungen erwarten: Ordnung, Sicherheit, Verlässlichkeit.

Und dazu gehörte, wie gesagt, zweitens, eine entschlossene Sozialpolitik für Kranke, Arbeitslose, Gering- und Normalverdiener: bezahlbare Ideen für die Pflege der Alten und eine wettbewerbsorientierte Bürgerversicherung, die strikte Einhaltung der Mindestlöhne und die Einführung einer Basisrente über dem Grundsicherungsniveau, die Absenkung der Sozialausgaben und die Förderung von Wohneigentum.

Dazu bräuchte es in den nächsten Wochen viel Mut, Offenheit und Selbst-Enttäuschungsbereitschaft auf allen Seiten – drei Ressourcen ausgerechnet, an denen es derzeit besonders schlimm mangelt in Berlin. Die Merkel-CDU ist schwach wie nie; der Nachwuchs um Jens Spahn und Carsten Linnemann arbeitet bereits machtvoll an der wirtschaftsfreundlichen und wertkonservativen Re-Profilierung der Christdemokratie. Die Seehofer-CSU ist Geschichte; nach den Verhandlungen wird Markus Söder das, nunja: neue Gesicht der Partei sein und mit neobajuwarischem Charme eine volkstümelnde Politik rechts der Mitte anzetteln. Die Grünen wiederum müssen im Bündnis mit drei „bürgerlichen“ Parteien sehr zu Recht um ihre linke Flanke bangen – ein Problem, das die FDP sehr zu Recht nicht interessiert. Die Parteispitze der Liberalen schließlich hat das Problem, dass vielleicht sie selbst mit den Özdemir-Grünen gut auskommt – dass aber viele FDP-Wähler von ihrem Lieblingsfeind der vergangenen Jahre („Verbotspartei!“) noch immer besessen sind.

Anders gesagt: Es läuft in den Sondierungsgesprächen wohl nicht auf Kant plus zielorientierte Sozialpolitik hinaus. Sondern auf ein Design des „guten Lebens“. Und weil darunter alle Teilnehmer etwas anderes verstehen, wird es am Ende kein Regierungsprogramm geben, sondern einen Vierjahresplan mit wohlklingender Überschrift, der lauter Kompromisse addiert.

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