Tauchsieder
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Können wir bitte zum Wahlabend vorspulen?

Die Spitzenkandidaten der Parteien wirken müde, zermürbt und dünnhäutig. Sie sehnen das Ende der Trielle, Wahlarenen und Vierkämpfe herbei – und wünschten sich zwei Wochen weiter. So wie wir alle.

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Zwei Wochen noch bis zur Bundestagswahl – und die entscheidende Frage ist: Wer findet die Taste mit den zwei Pfeilen nach rechts, um die Zeit flugs vorzuspulen? Es wäre eine Erlösung. Die Kandidaten sind jetzt täglich unterwegs im Land und im Fernsehen, heftig umwittert vom Stakkato der Umfragen und den Einflüsterungen der Berater, sie stellen sich Bürgern in „Wahlarenen“ und Klartextrunden, kreuzen die Klingen in „Triellen“ (CDU, SPD, Grüne) und Vierkämpfen (AfD, FDP, CSU, Linke).

Dabei sind die politischen Kernbotschaften ja längst versendet, die Losungen distribuiert: Respekt und Mindestlohn, Aktienrente und Klimawende jetzt. Allein die Union weiß wie immer nichts mit dem Land anzufangen, nur dass es ihr diesmal wenig zu nützen scheint, weshalb sie täglich poltert und eifert und schmutzelt und verleumdet, allen voran Armin Laschet, den man sich früher wenigstens mal als netten Onkel vorstellen konnte.

Aber das ist lange vorbei, damals wollte Laschet noch im „Schlafwagen“ ins Kanzleramt rollen, weil die Union nun mal ein Abo aufs Chefregieren und die Umverteilung von Ministerposten besitzt, so jedenfalls sieht man es im Konrad-Adenauer-Haus: Wir stehen zwar jederzeit mit nichts da, aber immer auf der Seite der Vernunft, während die Linken immer auf der falschen Seite standen, so Laschet – erbärmlicher wird's nicht mehr.

Aber natürlich, er muss das jetzt tun, muss jetzt täglich mit Wucht und Verve den Einfaltspinsel und Weltversimpler geben, den Einheizer, der rhetorisch unter Volldampf steht, um die Deutschen vor dem kulturellen Untergang (Gendersternchen!), vor einem ökonomische Desaster (Steuererhöhungen!) und vor dem Untergang Europas (Schuldenunion!) zu bewahren. Tiefschwarze Politpädagogik - wenigstens in diesem Punkt scheint die Union wieder ganz zu ihren konservativen Wurzeln zurückzufinden.

Was soll's. Es geht in den verbleibenden zwei Wochen nurmehr ums Sprücheklopfen und Spitzensetzen, um das Bewirtschaften von Stimmungen und das Bestätigen von Vorurteilen, um das Verbreiten von agonalen Gesten und Jetzt-gilt-es-Parolen, um das Vermeiden von Fehlern und memefähigen Bildern – und im Falle der Union um das Hoffen auf den einen „lucky punch“.

„Ludi incipiant“ also, das Endspiel um Kanzleramt möge beginnen, am Samstag ging's los auf dem CSU-Parteitag, am Sonntag geht’s weiter mit der Eröffnung der Schlussphase in ARD und ZDF („Das Triell“) – und klar, das Rennen ist noch immer offen, man täusche sich nicht: Die Deutschen stimmen zwar längst ab, noch dazu so eifrig im Vorfeld des Wahltags wie noch nie (Briefwahl), aber vielleicht bringt Bernard Südbeck, der ehemalige CDU-Chef  Cloppenburgs, ja Olaf Scholz doch noch einmal in Bedrängnis. Der Leiter der  Staatsanwaltschaft Osnabrück jedenfalls ließ vor ein paar Tagen das Bundesfinanzministerium durchforsten und wirft damit nicht nur erneut Fragen zu Scholz' Amtsführung auf, sondern überhaupt die Frage aller Fragen für den Kanzlerkandidaten der SPD: Kann Scholz sein in jeglicher Hinsicht ominöses Seriositäts- und Saubermann-Image irgendwie über die Zeit retten? 

Falls ja oder falls nicht – die Wähler sind sowieso inzwischen maximal verwirrt und entschlusslahm; sie würden das Land vor allem keinem der Spitzenkandidatinnen und  -kandidaten gern anvertrauen – und sie müssen bis zum 26. September ja nicht nur für Personen und Parteien, sondern auch für Koalitionen und Lager optieren: So strategisch und taktisch kreiste der Stift vermutlich noch nie über dem Wahlzettel.

Es spricht daher so viel dafür wie dagegen, dass die Demoskopen, die die politische Stimmung im Land nicht nur abbilden, sondern auch beeinflussen, das Ergebnis des Wahlabends am Ende vorweggenommen haben werden oder nicht. Die Konjunkturzyklen in der Politik sind inzwischen extrem kurz – Kitchin in Potenz statt Kondratjew sozusagen –, sie verfestigen sich leicht zu kurzfristigen Trends, neigen ins Extreme, schlagen blitzschnell um.

Also bitte vorspulen jetzt zum Wahlabend, das wäre vielleicht nicht für die Union das Beste, wohl aber für uns Zaungäste des Spektakels und die Kandidaten selbst, die erkennbar müde (Olaf Scholz), enttäuscht (Annalena Baerbock), geschockt und gereizt (Armin Laschet) sind – und von deren Souveränitätsposen (Scholz), Sympathiebemühungen (Baerbock), Provokationspoltereien (Laschet) und Selbstverliebtheiten (Christian Lindner) wir inzwischen ausreichend Kenntnis bekommen durften.

Zumal es nach dem 26. September ja weiter geht und wieder heißen wird: „Ludi incipiant!“, denn dann wird gepokert und geblufft, geputscht und gestürzt, gedroht und gedealt in Berlin – bis irgendeine „Koalition unter Vorbehalt“ steht, die vor lauter Misstrauen in die politischen Lebensabschnittspartner in einem sehr langen Vertrag minutiös auflisten wird, was sie abzuarbeiten gedenkt.

Anders gesagt: Die Deutschen müssen sich auf einen weiteren Vierjahresplan einstellen, sei es der einer Ampel-, Jamaika- oder „großen“ Koalition. Und die vielleicht schönste Ironie der Geschichte wäre im Fall einer Ampel, dass ausgerechnet die FDP einen Vierjahresplan als besonders verpflichtend erachtet.



Oder nein, halt, noch schöner wäre, wenn der Bundespräsident am Ende Markus Söder als deus-ex-machina-Kanzler einer unionsgeführten Jamaika-Koalition mit Klimaministerin Baerbock und Finanzminister Lindner vereidigen würde – und „Wahlsieger“ Scholz sich neben Kevin Kühnert auf der Oppositionsbank wiederfände.

Oder nein, halt, noch schöner wäre, wenn die Union nach dem Scheitern von Jamaika-Sondierungen und Ampel-Gesprächen von Frank-Walter Steinmeier ermahnt würde, sich zur Vermeidung von Neuwahlen als Juniorpartner in eine große Koalition unter Kanzlerkönig Olaf I. zu verfügen.

Oder halt, nein, noch schöner wäre, der Bundespräsident hielte eine solche große Koalition nicht etwa für das Ende einer Staatskrise, sondern für deren Urgrund, weil die U-40-Wähler mehrheitlich Grün-Gelb gewählt haben – und ruft deshalb eben doch Neuwahlen aus.

Klingt surreal? Nur für Menschen abseits der Berliner Politikblase: In ihr selbst zirkulieren längst die abenteuerlichsten Geschichten. Und sie alle sind plausibel.

Vor allem natürlich die Geschichten rund um die so genannte „Union“. Welche Union? Mit welchem Personal? Tja, das ist tatsächlich eine der spannendsten Fragen nach dem 26. September: Wer wird in der Union (noch) was zu sagen haben? Die CDU, allen voran General Paul Ziemiak, die Prokrastination in Person, schiebt das hochexplosive Post-Merkel-Problem seit Jahren vor sich her; nun brennt die Lunte und viele wollen es endlich knallen hören.

Und dann? Jeder weiß: Die Kanzlerin hat das Land entschieden unentschieden regiert, den Tatsachen und Krisen fleißig hinterher amtiert, das tagespolitisch Mindeste und Erforderliche stets maximal situativ, spät und ziellos bewirtschaftet. Und sie hat die politische Oberfläche nach Maßgabe dessen, was die Demoskopen zu je gegebener Zeit mehrheitsopportun erscheinen ließen, zeitgemäß poliert, um ihrer Union drei Mal den Wahlsieg zu sichern.

Aber sie hat gewiss keinen Gestaltungsanspruch und kein normative Kraft besessen, keinen Kompass, an dem sie, die Partei und die Deutschen sich hätten orientieren können, keinen Sensor für die politischen Unterströmungen in diesem Land, keinen Ehrgeiz, dem Kontinent in seinen multiplen Orientierungskrisen die Richtung zu weisen – und auch keinen Sinn für ein Leitthema ihres Wirkens, weshalb es mit allem immer nur halbwegs, halbherzig voranging: Klima, Digitales, Soziales, zwei Schritte vor, einer zurück, zuweilen auch umgekehrt: eine Politik des „muddling through“ und der „great moderation“, in Bezug auf die Partei, das Land und Europa: oberflächlich stabil, untergründig zunehmend krisenhaft.

Einerseits. Andererseits hat Merkel die Union schrittweise modernisiert und halbwegs auf der Höhe der Zeit gehalten – und es bleibt absolut rätselhaft, was sich ihre innerparteilichen Kritiker heute unter „konservativer Politik“ vorstellen: Welche wäre das und wo würden ihre Schwerpunkte liegen? Eine Union, die heute der Atomkraft das Wort redete und „Straße vor Schiene“ propagierte, das Problem des Klimawandels marginalisierte und Lesben Rechte vorenthielt, die die Deregulierung der Finanzmärkte guthieß und gegen den Mindestlohn wetterte, das Problem niedriger Einkommen und hoher Mieten leugnete und die Lebendigkeit autogerechter Großstädte priese – eine solche Partei hätte (und hat) nicht mal mehr bei ihren Stammwählern eine Chance.

Es ist jedenfalls kein Zufall und nicht nur dem politischen Augenblick geschuldet, dass die Union jetzt „Saskia Esken“ und „Kevin Kühnert“ als Chiffren für den Leibhaftigen ins Spiel bringen: Die Partei hat sich selbst nichts (mehr) zu bieten außer alten Feindbildern. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul, ein Vertrauter Laschets, hat es dieser Tage schön auf den Punkt gebracht: „Wir brauchen jetzt ein Thema“, sagte Reul, und mindestens zwei Worte in diesem Satz waren (hoch-)verräterisch: Wir brauchen jetzt (!) ein (!) Thema – das ist zwei Wochen vor einer Bundestagswahl eine Bankrotterklärung.

Bitte vorspulen jetzt also, schnell, schnell. Die Kanzlerin ergreift im Bundestag Partei für Laschet – gute Güte, darf die das? Scholz hat sich als Impfversuchskaninchen bezeichnet – also wirklich! Baerbock kniet in der Wahlarena vor einer Rollstuhlfahrerin – richtig oder falsch? Lindner verzieht das Gesicht, als Baerbock im Bundestag sagt, der Markt interessiere sich nicht für Menschen – holla, die Waldfee! CDU-Landesministerin Karin Prien ruft dazu auf, dem recht randständigen CDU-Kandidaten im Wahlkreis 196 (Hans-Georg Maaßen) die Erststimme zu verweigern – also sowas! Und CSU-Generalsekretär Markus Blume gibt doch tatsächlich zu Protokoll: Mit Söder stünde die Union jetzt besser da – jaja, ist gut jetzt, wir haben es verstanden.

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Zwei Wochen noch. Durchhalten. Auf die Zähne beißen. Gute Mine zum absurden Spiel und nicht die Nerven verlieren, vor allem nicht in den „Wahlarenen“, wo Politik sich zuweilen in Einzelfallbetreuung auflöst, ins Therapeutische wendet: Helfen Sie mir! Wer genau hinsieht, sieht Scholz und Baerbock dabei heftig bemüht, Eindruck zu schinden. Und sieht Laschet dabei an, dass er selbst nicht mehr wirklich an seine politische Zukunft in Berlin glaubt.

Denn Laschet weiß: Er würde selbst im Kanzleramt, mit im Schlussspurt erkämpften 25 Prozent der Stimmen, seines politischen Lebens nicht mehr froh: „Er ist schon ein sehr, sehr guter Politiker“, sagt Söder, der Chefrezensent der „Union“, über den gemeinsamen Kanzlerkandidaten – niemand demütigt besser, Tag für Tag; und niemand drückt zugleich präziser aus, was viele denken in der Union, zumal die Bundestags-Kandidatinnen und -Kandidaten auf den Marktplätzen, die ihren Einzug in den Bundestag dank Laschet so leichtfertig verspielt sehen.

Für der CDU-Chef  dürften die beiden nächsten Wochen daher eine einzige Qual sein. Er wirkt genervt und dünnhäutig, oft barsch und unduldsam, halb kämpferisch, halb verzweifelt. Zwei Wochen noch, dann hat er’s glücklich geschafft. Und wir haben es auch.

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