Der Hintergrund: In den USA geht nach dem Ende des “Bruttosozialproduktkriegs”, so der amerikanische Historiker Russel Weigley, die Angst vor einer zweiten Großen Depression um. Man erinnert sich damals an John Stuart Mill, der ein Endstadium der industriellen Produktion prognostiziert hat; auch die Dauerstagnationsthese von Keynes spukt damals in vielen Köpfen herum. Es ist die Geburtsstunde des modernen Wachstumsdogmas. Im Employment Act von 1946, schreibt Lepenies, wird “die Ausweitung der Produktion zum Regierungsziel” erklärt. Seither ist das Bruttosozialprodukt der Goldstandard “für die interne politische und soziale Stabilität eines Landes”, “zu der in einer Zahl ausgedrückten Metapher für den Zustand der Wirtschaft und damit für den Zustand eines Landes“ - eine Zahl, “die aus der politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken“ ist.
Vor allem aber gilt seither der Grundsatz: Wir arbeiten nicht, um Güter zu produzieren und zu konsumieren. Sondern wir produzieren und konsumieren, um (eine) Arbeit(sstelle) zu haben. Das ist die eigentliche realwirtschaftliche Transformation, die sich hinter dem Siegeszug des BIP verbirgt: Die “Macht der einen Zahl” besteht exakt darin, dass sie die Prämissen dessen, was wir heute ökonomische Vernunft nennen und vor 100 Jahren ökonomische Vernunft genannt haben, komplett auf den Kopf stellt. Der Marshall-Plan (1948 - 1952) hat diesen Prozess gewissermaßen vollendet: Er hat der amerikanischen Wirtschaft nicht nur einen großen Absatzmarkt eröffnet, sondern auch ein für allemal das Verhältnis von kultureller und zivilisatorischer Entwicklung geklärt: Die Vision von ökonomischen Nachzieheffekten und einer aufholenden Entwicklung hat dazu geführt, dass die Welt bis heute unter “Fortschritt” vor allem ökonomisches “Fortschreiten” versteht: die Steigerung des Bruttosozialprodukts.
Der große Mangel an Lepenies’ Buch besteht darin, dass er diese große Erzählung vor lauter interessanten Einzelheiten zuweilen aus dem Auge verliert und nicht schlüssig verdichtet. Vor allem aber gelingt es ihm nicht, die Erfolgsgeschichte des BIP zugleich als Problemgeschichte zu konturieren, die ihren Ausgangspunkt von den aktuellen Nachhaltigkeitskrisen (Klima, Umwelt, Finanzen) nähme. Kein Wort von den Zweifeln, die Stiglitz und Sen seit einigen Jahren am BIP äußern. Kein Wort darüber, was von einer Wirtschaft zu halten ist, deren primäre Aufgabe nicht darin besteht, Wohlstandsbürger mit Gütern zu versorgen, sondern Wohlstandsbürger in zunehmend schlecht bezahlter Arbeit zu erhalten.
Kein Wort schließlich davon, dass der Glaube ans BIP und seine Anfälligkeit zur politischen Manipulation ein Kreditexpansionsmodell begünstigt haben, das die chronische Wachstumsschwäche unserer Volkswirtschaften seit den 1970er Jahren zugleich schönt und verschärft - und dass das BIP zum Credo eines finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus wurde, der die goldenen Regeln der Marktwirtschaft ad absurdum führt. Das alles freilich ändert nichts daran, dass man Lepenies´ Studie viele Leser wünscht. Als Erzählung mag seine “politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts” vielleicht nicht überzeugen. Als Genealogie einer Zahlenidee ist sie lehrreich - und garantiert nachhaltig.
Philipp Lepenies, Die Macht der einen Zahl, Suhrkamp 2013, 16,00 Euro