Tauchsieder

Mensch, Kretschmann!

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Kretschmann - die Vernunft in Person?

Angela Merkel zum Beispiel. Hält mit fast kleinkindischer Trotzköpfigkeit an der Sprachregelung fest, dass es um „die Bekämpfung der Flüchtlingsursachen“ und eine „europäische Lösung“ geht - als sei damit irgendwas gesagt über die schiere Zahl der Migranten und die mutmaßlichen Kosten ihrer Integration, über das Engagement der Deutschen in der Weltpolitik oder den drohenden Zerfall der EU, über die gegenwärtigen Sorgen der Kommunen und die Ängste der Bürger.

Merkel spricht vollmundig vom „humanitären Imperativ“, der ihrem grenzöffnenden „Wir schaffen das“ vor sechs Monaten zugrunde gelegen habe - und scheut sich doch jetzt aus lauter Taktik, aus lauter Angst vor der AfD und einer krachenden Wahlniederlage, die vor der mazedonischen Grenzen gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland zu eskortieren. Oder nehmen wir Sigmar Gabriel (SPD), den Vizekanzler. Besucht erst Pegida-Demonstranten, die er  dann als „Pack“ beschimpft. Lehnt Obergrenzen ab, will aber Kontingente. Mahnt eine Kosten-Debatte an und schlägt dann wieder nationaldeutsche Ausgabenprogramme vor… Oder nehmen wir Horst Seehofer (CSU), den bayerischen Ministerpräsidenten, der aus München droht und zetert wie der neue Frontmann der AfD, der die eigene Regierung beklagt und die Kanzlerin demütigt, wann immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet…

Dagegen wirkt Winfried Kretschmann wie die Vernunft in Person - wie einer, der nach guten Gründen für seine Politik sucht und sie - im offenen Diskurs mit anderen und sich selbst - umsetzt. Kretschmann hat nicht nur, lange bevor die Flüchtlingskrise zum beherrschenden Thema wurde, gegen die Grünen durchgesetzt, dass die Zahl der „sicheren Herkunftsländer“ ausgeweitet wird. Sondern er hatte dafür auch gute Argumente auf seiner Seite.

In einer Zeit, in der Deutschland Hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Schutz bietet, muss es sich - zumindest vorübergehend - von aufwändigen Asylverfahren entlasten, in denen Albaner oder Marokkaner zum Beispiel nachzuweisen versuchen, dass sie in ihrer Heimat wegen ihrer Homosexualität verfolgt werden. Sicher, in Union und SPD hat sich diese Sichtweise schon früher durchgesetzt. Aber keineswegs so überzeugend. Anders als bei Innenminister de Maiziere, Gabriel oder Seehofer hört man von Kretschmann kaum je ein plumpes Wort, einen populistischen Unterton, eine pauschalisierende Phrase, die nach dem schnellen Beifall vorurteilsbereiter Deutschwähler heischt. 

Doch bei alledem lässt es Kretschmann keineswegs an Klarheit und Verantwortungsbereitschaft mangeln - auch und gerade dann, wenn er Politik gegen seine eigenen Überzeugungen macht. Kretschmann hat den Volksentscheid für den Bau des Stuttgarter Bahnhofs getragen: „In einer Demokratie gibt es kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Es gibt nur Meinungen, und eine setzt sich durch.“

Kretschmann hat sich dafür ausgesprochen, auch in Baden-Württemberg nach Endlagern für den Atommüll zu suchen: Was die Deutschen sich gemeinsam eingebrockt haben, müssen sie auch gemeinsam auslöffeln. Kretschmann verteidigt seine deutschlandweit belächelte Politik der Sexualerziehung, die bereits Zwölfjährige mit „Transpersonen“ vertraut machen soll - weil „schwule Sau“ noch immer zu den gängigen Schimpfworten auf den Schulhöfen der Republik gehört, so sein (leider allzu richtiges) Argument. Egal, was Kretschmann sagt - man kann es nicht einfach abtun. Seine Argumente haben Gewicht. Sie sind fundiert von Überzeugungen, die, ganz gleich, ob man sie teilt oder nicht, von Reife und Ernsthaftigkeit geprägt sind.

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