Tauchsieder

Taktlose Gehälter?

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"Kultur" ist heutzutage begründungspflichtiger denn je

Neu ist vielmehr, dass Kulturdezernenten und Intendanten in Großstadtkommunen sich einer Handvoll Top-Dirigenten an den Hals werfen (müssen), um sich von ihnen die Bedingungen diktieren zu lassen - während gleichzeitig in Deutschland Orchester fusioniert und abgewickelt werden.

Neu ist zweitens, dass „Kultur“ heutzutage begründungspflichtiger denn je ist - erst recht, seit die Politik unter „Bildung“ nur noch den Aufbau von funktionsintelligentem Humankapital versteht. Es stimmt schon: In Deutschland leben zunehmend viele junge Menschen, die es durchaus nicht als Mangel begreifen, dass sie womöglich keinen einzigen „Don Giovanni“ in ihrem Leben gesehen haben werden.

Umso wichtiger wäre, dass die „kulturelle Fraktion“ endlich raus aus der Defensive kommt und die (vor allem auch nicht-ökonomische!) Bedeutung von „Kultur“ als Medium unterstreicht, durch das Menschen über Generationen hinweg mit sich selbst im Gespräch bleiben. Wo sind die Claus Peymanns, die einem als Politiker getarnten Kultur-Controller sagen: „Wir kriegen von der öffentlichen Hand nicht zu viel, sondern viel zu wenig Geld“? Und umgekehrt: Wo sind die Kulturpolitiker, die sich darauf verständigen, vertragsbrüchigen Maestros mit Allmächtigkeitsgedanken künftig die Tür zu weisen?

Ihren absurdesten Ausdruck nimmt die Ökonomisierung einer auf wenige Pultstars fokussierte Klassik-Branche fraglos in Rankings an, zu deren Anfertigung sich, man glaubt es kaum, auch Musikkritiker herabwürdigen lassen. Das jüngste Ranking, vor gut zwei Wochen veröffentlicht, kommt allen Ernstes zu dem Schluss, dass es sich etwa bei der Berliner Staatskapelle von Daniel Barenboim um das „sechstbeste Orchester der Welt“ (gleichauf mit dem LSO aus London…) und bei Yannick Nezet-Seguin um den „neuntbesten Dirigenten der Welt“ handelt. Tiefer kann Hochkultur nicht fallen.

Bemerkenswert an diesem Ranking ist: Wenn fünf der „Top-10“-Orchester in Deutschland beheimatet sind… Wenn sieben der „Top-10“-Dirigenten in Deutschland ihren künstlerischen Schwerpunkt haben… Wenn viele große deutsche Rundfunkorchester, das Deutsche Symphonie-Orchester, die Münchner Philharmoniker und die Bamberger Symphoniker auf dieser Liste fehlen…

Wenn noch dazu auf dieser Liste nicht die Namen von, sagen wir: Paavo Järvi, Alan Gilbert, Michael Tilson Thomas, Fabio Luisi, Pierre Boulez, Tugan Sokhiev, Ivan Fischer (oder Valery Gergiev!) auftauchen - dann deutet das erstens darauf hin, wie einzigartig breit die Spitze der Musikkultur in Deutschland ist. Und zweitens darauf, dass die Einzigartigkeit von Spitzendirigenten in vielen Fällen so einzigartig gar nicht ist.

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