




Die Organspende zum Beispiel. Wie kann der Staat Menschen dazu bringen, sich für den Fall ihres Todes mit der Entnahme ihrer Nieren oder ihrer Leber einverstanden zu erklären? Erstens: Der Staat kann bloß informieren, eine Pressekonferenz einberufen oder Statistiken veröffentlichen, im Internet zum Beispiel: Jährlich sterben xy Menschen - und sie müssten es nicht, wenn xy Menschen zur Organspende bereit wären. Zweitens: Der Staat kann Organspenderausweise drucken, eine breitangelegte Kampagne mit riesigen Plakaten auflegen, Fernsehspots schalten und die Krankenkassen auffordern, ihren Mitgliedern alle zwei Jahre dringend ans Herz zu legen, es post mortem zu verschenken. Drittens: Der Staat kann verfügen, dass die Entnahme von Organen bei Toten die Regel ist - es sei denn, jemand erklärt ausdrücklich, er wünsche körperlich unversehrt beerdigt oder verbrannt zu werden.
Und - was meinen Sie? Welche der drei Varianten verspricht den größten Erfolg? Ich denke, wir sind uns einig: Variante eins, die schiere Aufklärung, beschert dem Staat weniger Organspender als Variante zwei, bei der der Staat das Mittel der wertenden Werbung einsetzt - und Variante zwei wiederum weniger als Variante drei, bei der der Staat die Bereitschaft zur Organspende nicht erst erzielen möchte, sondern bereits voraussetzt. Was also meinen Sie? Für welche Politik sollte sich der Staat entscheiden? Ich bin mir sicher: An diesem Punkt sind wir uns alle herzlich uneinig. Aber warum?
Der Staat "stupst" die Bürger in die richtige Richtung
Cass Sunstein hat auf diese Frage ein paar gute Antworten - und es gehört zu den größten Vorzügen seiner beiden jüngsten Buch-Veröffentlichungen "Why Nudge?" und "Wiser" (beide nur in Englisch erhältlich, auch als Kindle-Download), dass er das weite Feld von "Good Governance" und "wohlmeinender Politik" mit Rastern überzieht, die dem Leser einen guten Überblick über die Formenvielfalt des staatlichen Paternalismus verschaffen. Sunstein klärt und variiert darin einen Gedanken, den er in einem gemeinsamen Buch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler bereits 2008 auf den Begriff nudge gebracht hat. "Nudge" bedeutet so viel wie "stupsen" und steht für eine Regierungspolitik in den liberalen Demokratien des Westens, die es ihren Bürgern erleichtern soll, in ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse zu handeln.
Die Kernidee: Der Staat sorgt für das richtige "framing" eines Themas, ohne dabei die Mündigkeit und Wahlfreiheit seiner Bürger zu verletzen - und "stupst" sein Volk damit in die richtige Richtung, genauer: in seine "gesündere, reichere und glücklichere" Zukunft. Dahinter steckt die simple, alltagsempirisch unwiderlegbare Annahme, dass Menschen oft falsche oder unbedachte Entscheidungen treffen, die ihren (langfristigen) Interessen und (eigentlichen) Wünschen zuwiderlaufen.
Anders gesagt: Wir greifen nach der Burger-Mahlzeit zur Zigarette und setzen uns dank Dispo-Kredit in den Billig-Flieger nach Mallorca - obwohl wir das spätestens mit 70 bitter bereuen werden, weil sich ein Schatten auf unsere Lunge gelegt hat, die Grundsicherung nicht mal fürs Nötigste reicht - und weil wir unseren adipösen Enkeln nicht nur einen Schuldenberg, sondern auch eine Klimahölle hinterlassen werden.
Cass Sunstein ist der Auffassung, dass das nicht sein muss. Dass es eine bessere Welt geben kann, dass sich keine Regierung mit der Unzulänglichkeit ihrer Bürger abzufinden hat - und dass Wohlfahrtsgesellschaften mit geringen materiellen Mitteln grüner, gesünder und zukunftsfester gemacht werden können. Deshalb ruft er das Zeitalter des "liberalen Paternalismus" aus. Dieses Zeitalter gibt es zwar längst, seit den Tagen des aufgeklärten Absolutismus, in seiner modernen, sozialstaatlich akzentuierten Variante seit den Tagen von Bismarck und erst recht seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch ist der "liberale Paternalismus" als "Regierung der Freiheit" von etwas kräftigeren Denkern als Sunstein schon vor Jahrzehnten diagnostiziert und wortreich beschrieben worden.