Tauchsieder

Liberal – war einmal

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Lebenslüge und Sackgasse der CDU

Zugleich hat die CDU die Linken im Stil der Neunzigerjahre dämonisiert – als handelte es sich bei Ihnen noch um die fünfte Kolonne Moskaus. Zur Erinnerung: Es waren vor allem Annegret Kramp-Karrenbauer und Paul Ziemiak, die sich unmittelbar nach der Landtagswahl im Oktober 2019 jede Annäherung der CDU in Thüringen an Bodo Ramelow und die Linken verbeten haben – weil die Union noch immer den Kolossalblödsinn einer Äquidistanz zu den „politischen Rändern“ predigt und sich eine kommunistische Gefahr herbeihalluziniert.

Es ist höchste Zeit, dass sich die CDU von dieser Lebenslüge verabschiedet. Es gibt keine Äquidistanz der „Parteien der Mitte“ zu den „linken“ und „rechten“ Rändern. Der entscheidende Unterschied zwischen der Linken und der AfD ist: Jene ist in weiten Teilen (heute) eine staatstragende Partei, diese nicht. Jene will integrativ etwas für dieses Land erreichen; diese spielt „das Volk“ gegen es selbst aus. Jene hat sich Jahrzehnte lang als eine Art Kümmer-CSU des Ostens um die Menschen verdient gemacht; diese hetzt sie auf.

Es ist ein schweres Versäumnis der CDU-Parteiführung, dass sie das strategische Problem jahrelang ignoriert hat, das mit den Erfolgen zweier großer Parteien am Rand des Parteienspektrums im Osten verbunden ist – und dass sie den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther vor anderthalb Jahren kalt abfahren ließ, als er seiner Partei Wege aus der Sackgasse andeutete und mit Blick auf leicht absehbar schwierige Machtverhältnisse in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, eine vorsichtige Annäherung an die Linken anmahnte. Eben dazu ist die CDU, Kramp-Karrenbauer und Paul Ziemiak sei Dank, noch heute nicht in der Lage: Eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung unter Bodo Ramelow in vereinzelten Sachfragen, beim Kitausbau, in der Schulpolitik, auf Landesebene zu dulden. Nicht mal verbunden mit einem Ceterem censeo: „Im Übrigen sind wir der Meinung, dass viele Linke noch immer das Unrechtsregime der DDR schönreden und damit seine Opfer verhöhnen!“

Was CDU und FDP eint: Am Ende ihrer symmetrischen Mobilisierung gegen Linksgrüne und Rechtsnationale stehen plötzlich Landtagsabgeordnete der CDU und FDP in Thüringen, die keinen Sinn mehr entwickeln können für das, was konservativ und bürgerlich, liberal und christdemokratisch ist – und die vor lauter Ressentiment gegen klimahysterische „Gutmenschen“ und deren angeblichen Enteignungsfantasien auch den Beifall rechtsradikaler Bösmenschen in Kauf nehmen. Die CDU hat aus Angst vor dem Verlust ihres „konservativen Kerns“ ihr Bewusstsein fürs Konservative verloren. Und die FDP hat aus Angst vor der schieren Übermacht vegetarischer und radfahrender Liberaler keine Ahnung mehr, was sie unter Freiheit verstehen soll.

Das ist der Kern des Problems. Es gibt für die vormals Bürgerlichen kein Zurück zu „konservativen Werten“ und „marktliberalen Wurzeln“ – denn welche wären das und wo würden sie liegen? Eine schwarzgelbe Koalition, die heute der Atomkraft das Wort redete und „Straße vor Schiene“ propagierte, die das Problem des Klimawandels marginalisierte und Schwulen Rechte vorenthielt, die gegen den Mindestlohn wetterte und das Problem niedriger Einkommen und Renten leugnete – diese Koalition hätte nicht mal mehr bei ihren Stammwählern eine Chance.

Insofern markiert „Thüringen“ nicht nur das logische Ende eines langen politischen Versagens in zwei Parteizentralen. Sondern auch einen Tiefpunkt für zwei Geisteshaltungen, für die beide Parteien als politische Organisationsbasis eine Bühne sein wollen: für „das Konservative“ und „das Liberale“. Es spricht Bände, dass allein und ausgerechnet die Markus-Söder-CSU seit einem Jahr erfolgreich ihren Markenkern übermalt und modernen, liberalkonservativen Wählern etwas Bejahbares anzubieten weiß – dass in Bayern eine grünliberaler Konservativismus heranreift, der nicht den „linken Zeitgeist“ verabscheut, sondern aufnimmt, ihn sich anverwandelt, ihn produktiv umdeutet.

CDU und FDP dagegen sind nach dem Debakel in Erfurt von einer entschlossenen, selbstbestimmten Politik, die sich nicht am politischen Gegner orientiert, sondern kraft Programmatik, Gestaltungswillen und Opportunität Lösungswege sucht, um eine Welt, wie sie ist, politisch avanciert zu bewirtschaften, vielleicht weiter entfernt als je zuvor in ihrer Geschichte.

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