Tauchsieder

Lesen wird überschätzt

Im Mensch-Maschinen-Zeitalter werden wir nicht mehr zu Büchern greifen. Sondern eine interaktive Informations-Schnittstelle sein. Gedanken zum schleichenden Tod einer Kulturtechnik.

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Nächste Woche ist wieder Buchmesse in Frankfurt. Es wird mit Sicherheit viel von Amazon die Rede sein und vom Trend zur Verbilligung des digital verbreiteten Wortes, von den Möglichkeiten und Gefahren des Self-Publishings und von einer Flatrate für Bücher, die den Verlagen den Garaus machen wird. Man wird über die tiefgreifenden Veränderungen sprechen, von denen der Buchmarkt betroffen ist und von neuen Geschäftsmodellen, die auf den programmierten Unterhaltungs- (und Geschäfts-)erfolg abzielen: Bücher mit Figuren, die der Leser auch in seinem digitalen Leben antreffen wird, also bei Twitter oder Facebook, auf dem Smartphone, im Game oder im Fernsehen... Kurzum, die Branche wird sich mal wieder Gedanken darüber machen, wie man das Lese-Geschäft im Digitalzeitalter betreibt. Allein worüber sie sich mal wieder keine Gedanken machen wird: Dass durch die Digitale Revolution auch die Kulturtechnik des Lesens selbst zur Disposition steht - zum ersten Mal seit 2500 Jahren.

Die aktuellen Bücher zum Ersten Weltkrieg

Damals, als das Schreiben und Lesen gerade in Mode kam, warnten Sokrates und Platon, dass die schriftliche Fixierung von Gedanken ein Angriff auf des Menschen Gedächtniskraft sei und den beredten, lebendigen Austausch von Argumenten erschwere. Aber so prominent die beiden griechischen Philosophen damals schon waren, den globalen Siegeszug der größten medialen Innovation in der Geschichte der Menschheit haben sie nicht aufhalten können. Im Gegenteil, seit der Attischen Demokratie sind Schreiben und Lesen die zentralen Welterschließungstechniken des Menschen.

Eben das aber dürfte sich mit der Digitalen Wende nun ändern: Auf die beiden Zeitalter oraler und literaler Zurechtlegung von Wirklichkeit und "Wahrheit", wird sehr wahrscheinlich ein drittes, Mensch-Maschinen-Zeitalter der multi-zeichenhaften Vernetzung folgen. Wir stehen am Beginn einer neuen Ära der Aufbereitung, Bearbeitung und Verarbeitung von Information - und es spricht viel dafür, dass die Menschheit sich längst auf dem Weg gemacht hat, die "Gutenberg-Galaxis" zu verlassen. Jenseits von ihr, in einem anderen Medienuniversum, verwandeln wir uns die Welt nicht mehr (nur) rezeptiv und sukzessiv in Texten und Theorien an, sondern (auch) interaktiv und simultan, in Bildern, Zahlen, Grafiken, Tabellen, Projektionen und Modellen.

Der Mensch ist eine Informationsschnittstelle

Bereits vor einem halben Jahrhundert wusste Marshall McLuhan, was das im Kern bedeutet: "Die elektrische Geschwindigkeit... vereinigt Nichtalphabeten mit Halbalphabeten und Nachalphabeten." Gewiss, McLuhan argumentierte im heraufziehenden Fernseh-Zeitalter noch mit dem klassischen (sokratischen) Begriffsbesteck der Medienkritik. Er warnte vor Reizüberflutung und Oberflächlichkeit - und natürlich: vor dem Egalitarismus einer schnellen Elektronik, die "vorgeschichtliche Kulturen mit dem Ramsch der industriellen Markthändler" verschmilzt. Der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman ("Wir amüsieren uns zu Tode") popularisierte diese Gedanken 1985, unter anderem in seiner Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse, und bündelte sie in der Beobachtung, dass Fernsehen komplexe Inhalte wohl vermitteln könne - allerdings um den Preis ihrer Komplexität: "Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert; problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert."

Der Kindle Paperwhite im Praxistest
Nicht viel größer als ein Reclam-Buch ist der Kindle Paperwhite. Entsprechend klein ist aber auch das Display. Quelle: Mehmet Toprak
Fast so gut wie auf Papier ist die Darstellung des Kindle Paperwhite. Quelle: Presse
Die Anzeige lässt sich auf Querformat umstellen. Quelle: Mehmet Toprak
Mit der Funktion Pageflip kann der Leser im E-Book blättern, ohne die zuletzt gelesene Seite zu verlieren. Quelle: Presse
Einstellungen wie Schriftgröße und Schrifttyp kann man während der Lektüre verändern. Quelle: Presse

Kurzum, der doppelte Topos von der Überforderung (Reizflut) und Unterforderung (Komplexitätsreduktion) des modernen Medienkonsumenten einerseits und von der Rangerniedrigung der Hochkultur durch Radio und Fernsehen andererseits ist nicht neu. Bekanntlich hat schon Theodor W. Adorno die Opfer des kulturindustriellen Verblendungszusammenhangs mit dem herausragenden Satz verspottet: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen." Seither sind ganze Regalmeter von Literatur entstanden, die den Niedergang der Lesefähigkeit und der Allgemeinbildung beklagen... - nähme man sie beim Wort, müsste man religiös werden angesichts des Wunders, dass die Menschheit sich nicht längst schon blöd und träg zu Grabe getragen hat.

Freilich, was die Klassiker der modernen Medientheorie noch nicht ahnen konnten: Dass der Mensch in der Digitalen Welt zu einer Art Informationsschnittstelle wird, die laufend Daten konsumiert und zugleich liefert - und wie eminent daher die Folgen der multimedialen Informationsverdichtung sind: Dass wir zu Gefangene des Hier-und Jetzt werden, vor lauter unverbundenem Nebeneinander zunehmend unempfindlich für Herkünfte und Traditionen.

Zeit der großen Bücher ist unwiderruflich vorbei

Dass die Gegenwart durch die schiere Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts schrumpft und den heutigen Generationen mehr denn je die Möglichkeit raubt, sich den Horizont ihrer Eltern (geschweige denn: ihrer Großeltern) überhaupt noch zu vergegenwärtigen. Dass wir einem Zeitalter entgegen eilen, in dem wir jederzeit verbunden sein werden mit der Gegenwart, aber zunehmend abgeschnitten vom kulturellen Erbe der Menschheit. Dass wir unbegrenzten Zugang zu allem und zu jedem haben werden, aber nicht mehr im Gespräch mit Autoren, Büchern und Texten der Vergangenheit.

Das schöne Buch

Und was ist mit der Zukunft? Nun, auch die droht im Meer der Gegenwartsinformation zu ertrinken. Der New Yorker Medientheoretiker Douglas Rushkoff hat den Trend zuletzt auf den schönen Begriff (und Buchtitel) "Present Shock" gebracht: Die Zukunft spiele ganz einfach deshalb keine Rolle mehr, weil wir sie vor lauter Gegenwart nicht mehr bemerken. Die meisten Leser seines neues Werkes etwa, da ist sich Rushkoff sicher, werden es - sei es druckfrisch, sei es digitalisiert - allenfalls noch quer oder auszugsweise lesen, vielleicht sogar seine Hauptaussage zur Kenntnis nehmen, sich vor allem aber ganz schnell wieder anderen Informations- und Unterhaltungsquellen zuwenden. Der Grund dafür ist weniger, dass das geschriebene Wort sich vom Trägermedium Buch löst. Auch nicht, dass es auf dem Tablet-Computer in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Informations- und Unterhaltungsangeboten steht, die mit ihm um die Aufmerksamkeit des Medienkonsumenten ringen. Sondern der Grund ist vor allem, dass es keine allgemeine Verbindlichkeit von Information mehr gibt, kein Empfinden für einen Fortschritt, der unsere Erfahrungen, der unser Denken, der unser Tun bündelt.

Die Zeit der "großen Bücher" etwa ist unwiderruflich vorbei. Kein noch so gescheites Werk eines Dichters oder Denkers ist heute noch so obligat wie ehedem der neue Grass, so definitiv wie ein Habermas. Anders gesagt: Ein Buch ist heute exakt das, was seine Leser zu nichts mehr verbindet. Es verharkt sich bestenfalls noch als Stichwort im kollektiven Gedächtnis ("Das Ende der Geschichte", "Postdemokratie", "Die Schlafwandler" etc.), aber meist nicht mal das. Mit dem Ergebnis, dass die meisten Textschaffenden sich keine "Leserschaft" mehr aufbauen, sondern auf möglichst kurzem Wege ihre Peer Groups erreichen wollen. Daher der Trend im Sachbuchbereich zu kurzen, im Pamphlet-Stil geschriebenen Texten. Daher die gut verdaulichen 256-Seiter in der Belletristik. Daher auch kein Kinderbuch mehr, aus dem sich nicht zugleich eine Serie, ein Videospiel und ein Kinofilm machen ließen.

Größte Medienkompetenz hat der, der sich wenig interessiert.

Zu kulturkritischem Alarmismus besteht deshalb allerdings noch lange kein Anlass. Denn für den, der sein Informationsbedürfnis gezielt anzusteuern versteht, eröffnen sich durch die neuen Technologien zunächst einmal schier grenzenlose Arbeits-, Lern- und Lesemöglichkeiten. Das fängt mit dem im e-book eingebauten Lexikon zum schnellen Nachschlagen eines Fremdwortes an und wird mit digitalen Zettelkästen zum Archivieren wichtiger Textstellen noch lange nicht enden. Die weltweite Verfügbarkeit von buchstäblich allen Texten ist keine Utopie mehr - und insbesondere für Forscher, Wissenschaftler und interessierte Laien eine Verheißung. Aber auch für den privaten Konsumenten kann die systematische Textverbilligung - etwa durch eine Streaming-Flatrate, wie es sie heute bereits im Bereich Film und Musik gibt - auf einen quantitative wie qualitativ erhöhten Lesekonsum hinauslaufen. So wie jeder heute bei Spotify ganz ohne Gewähr, Schwellenangst und Zusatzkosten in György Ligeti reinhören oder aber bei Netflix Bekanntschaft mit Aki Kaurismäki schließen kann, so wird der Leser von morgen sich mal eben ein Kapitel aus Max Schelers "Die Stellung des Menschen im Kosmos" reinziehen können - wenn er denn will.

Die größte Medienkompetenz wird in der Zukunft fraglos der haben, der es schafft, sich für bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Der seiner Existenz als Schnittstelle der instantanen Google-Glass-Information misstraut und sich die Fähigkeit zur analogen, innengeleiteten Welterschließung erhält - die Fähigkeit, sein eigener Leben-Lotse zu sein. Das Problem ist, dass es seit der Digitalen Wende immer schwerer wird, sich diese Fähigkeit zu erhalten; dass es zunehmend anstrengend ist, nicht vom Informationsstrom mitgerissen zu werden, nicht selbst zum Newsticker zu werden - nicht selbst das Medium zu sein, durch das die alltägliche Information hindurch fließt und sich vermittelt.

Die Buchindustriellen in Frankfurt haben dafür keinen ausgeprägten Sinn. Sie eilen der Digitalisierung des Buches hinterher, um ihre Umsätze zu beschleunigen. Sie nehmen dadurch in Kauf, dass sie ihre Leser mehr denn je abrichten, "a tempo zu lesen, nämlich alle stets das Selbe, nämlich das Neueste", so Arthur Schopenhauer bereits vor 150 Jahren: "Weil die Leute, statt des besten aller Zeiten, immer nur das Neueste lesen,..., verschlammt das Zeitalter immer tiefer in seinem eigenen Dreck." Vor allem aber scheinen sie gar nicht mitzubekommen, das das Lesen selbst in Zukunft von des Menschen Fähigkeit zur Schnittstellen-Flucht abhängen wird. Zwei Stunden konzentriertes Lesen. Die Lektüre von Homer und Shakespeare. Das stille Gespräch mit Sokrates und Platon. Das alles wird in hundert Jahren wohl kein Vergnügen mehr sein. Sondern ein Akt des Widerstandes.

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