Tauchsieder

Liberalismus mit Anstand - geht das?

Die linke Freiheit meint: Leben und leben lassen. Die rechte Freiheit meint: Egoismus und Wettbewerb. Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa meint: Beides ist ein einziger, fataler Irrweg.

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Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Der liberale Kerngedanke, schreibt Jean-Claude Michéa, ist von "biblischer Schlichtheit". Wahrscheinlich deshalb schreibt der französische Philosoph ihn wieder und wieder auf in seinem Essay über "Das Reich des kleineren Übels": Damit ihn auch der flüchtigste Leser bloß nicht verpasst. Der liberale Kerngedanke, schreibt also Jean-Claude Michéa, geht so: Der Anspruch von Individuen, über Auffassungen des Guten, Schönen, Wahren zu verfügen, bringt Auseinandersetzungen und Konflikte hervor, einen "Krieg aller gegen alle" (Thomas Hobbes), in dem ein jeder darauf aus ist, seine Auffassung des Guten, Schönen, Wahren gegen die Auffassung seines Nachbarn durchzusetzen. Deshalb können die Mitglieder einer Gesellschaft nur dann friedlich miteinander auskommen, wenn die mit der Organisation des Miteinanders betraute Macht philosophisch neutral ist.

Anders gesagt: Der liberale Staat, als Utopie geboren nach der Erfahrung der Religionskriege im 17. Jahrhundert, muss sich enthalten, seinen Mitgliedern, die ihn bilden, eine bestimmte Auffassung des guten Lebens aufzuzwingen. Es geht den Liberalen künftig (allein) darum, die konkurrierenden Freiheiten so zu regulieren, dass jedes Individuum seine Freiheit barrierefrei verfolgen kann, solange der Nächste dabei keinen Schaden nimmt. Die Regierung, so bringt es der Schweizer Staatstheoretiker Benjamin Constant (1767 - 1830) auf den Punkt, "mag sich darauf beschränken, gerecht zu sein. Wir werden uns um unser Glück kümmern." Ein Staat ist nach Ansicht eines Liberalen genau dann ein gerechter Staat, wenn er über eine gute Rechtsprechung verfügt. Ein Staat ohne inneren Ideale und Werte. Ein Staat, der moralisch blind ist wie Justitia. Ein Staat, der nicht denkt.

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Für Jean-Claude Michéa ist dieser liberale Kerngedanke aber nicht nur von biblischer Schlichtheit, sondern auch der Quell aller modernen Übel, genauer: für das Mentalitätsregime einer Doktrin, die sich die Diskussion über das "geteilte Werte" und "gute Leben" erspart, um eine Ideologie des Egoismus und der Selbstverwirklichung von der Leine zu lassen, der kalten Berechnung und der Permissivität, der persönlichen Bereicherung und des Massenindividualismus. Es ist eine Doktrin, die paradoxerweise von Links- und Wirtschaftsliberalen geteilt wird, so Michéa, also ausgerechnet von jenen, die sich alltäglich in der politischen Arena kübelweise mit Schmutz überschütten - etwa wenn auf der linksliberalen Seite von der angeblichen Geldgier der Manager und Banker die Rede ist oder auf wirtschaftsliberaler Seite von der Laissez-Faire-Mentalität der 1968er, die angeblich das Wohlstandsfundament des Landes unterhöhlt. In beiden Fällen wird dem Gegner moralisches Fehlverhalten vorgeworfen, eine Erosion der guten Sitten, kurz: Unanständigkeit - obwohl in beiden Fällen, so Michéa, der Absender des Vorwurfs seit jeher ein ideologisches Interesse an der Ausschaltung dessen verfolgt, was "unanständig" genannt werden darf.

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