Während der kulturelle Liberalismus der Linken auf die Maximierung der Toleranz, sprich: die restlose Protektion aller individuellen Vorlieben und die unterschiedslose Gleichstellung aller Menschen abzielt, hat der Wirtschaftsliberalismus das Narrativ des harmonischen Marktes entwickelt, auf dem sich individuelle Laster (der Egoismus, die Gewinnsucht) in segensreiche Kollektivphänomene ("Wachstum und Wohlstand"), noch dazu mit pazifistischen Nebeneffekten ("Handel durch Wandel") verwandeln. Michéa führt diese historische Doppelbewegung des Liberalismus - den Gleichschritt von Rechts- und Marktfreiheit - zunächst auf ihren gemeinsamen Ausgangspunkt, die "axiologische Neutralität" des Liberalismus, zurück.
Der radikalen "ethischen Säuberung", der sich beide liberalen Denksysteme im Laufe der Jahrhunderte unterziehen, liege der explizite Verzicht aller normativen Strukturen das menschliche (Zusammen-)Lebens zugrunde: der Verzicht auf alles, was (gemeinsam) sein soll. Aus der Perspektive eines Liberalen, so Michéa, benötige die Moderne nichts weiter als gesetzliche Vorschriften, die den menschlichen Monaden das Recht einräumen, nach ihrer privaten Definition des "guten Lebens" zu leben (Linksliberalismus) und einen gemeinsamen Markt, auf dem die gleichen menschlichen Monaden nach den Regeln des freien Wettbewerbs ungehindert Waren und Dienstleistungen tauschen können (Wirtschaftsliberalismus).
Paradoxerweise - und das ist die erwartbare, aber deshalb nicht witzlose Pointe - führt nun ausgerechnet die "axiologische Neutralität" des Liberalismus dazu, dass er sich seinerseits in eine säkulare Religion verwandelt. Denn der Pessimismus des Liberalen, ihre Selbstauffassung, die Welt vor allen ideologischen Teufeleien beschützen zu müssen, hat eine optimistisch-ideologische Kehrseite: Den Glauben, dass die Mensch-Monade sich kraft seiner Arbeit und technischen Erfindungsgabe zum Herren über die Natur aufschwingen und materiellen Fortschritt ohne Ende produzieren kann. Und dieser Glaube ruht nicht etwa in sich selbst, im Gegenteil: Er muss unter immer neuen Bedingungen und Sichtweisen ausgelegt und bekräftigt werden. In einer Welt, die durch das Schwungrad des Kapitalismus permanent im Wandel begriffen ist, muss der Liberalismus sehr viel Energie aufbringen, um im Alltagsleben der Mensch-Monaden das (egoistische) Verhalten wachzuhalten, das diese Menschen eigentlich naturgemäß an den Tag legen (sollten). Daher das liberale Dauertremolo von Mehrleistung, Selbstverantwortung, Optimierung.
Kurzum, der Liberalismus ist für Michéa eine doktrinäre Weltanschauung, die den Menschen - mit den besten Absichten, versteht sich - eine "Gesellschaft des kleineren Übels" aufzwingt. Darunter versteht Michéa, wie gesagt, eine Gesellschaft, die explizit darauf verzichtet, ihren Mitgliedern den Willen zur moralischen Vervollkommnung abzuverlangen; eine Gesellschaft, die ihre Individuen "von der moralischen Versuchung" abhält, weil sie davon ausgeht, dass die Räder des fortschrittlich Miteinander umso besser ineinander greifen, wenn jedes ihrer Mitglieder davon absieht, jenseits persönlicher Interessen "Arbeit an sich zu leisten" (Bernard Mandeville, Adam Smith). Es versteht sich von selbst, dass die Rationalität einer solchen Gesellschaft zutiefst unsolidarisch, berechnend, prozedural und positivistisch ist. Es ist eine Gesellschaft wie gemacht für den homo oeconomicus, der auch bei Partnerwahl und Familiengründung nicht vergisst, die Opportunitätskosten einzurechnen und auf Humankapital-Renditen zu spekulieren.