Tauchsieder

Wie schön, dass Marx sich so gründlich geirrt hat

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Marx' Schriften als Dokumente zunehmender Verzweiflung

Dass ausgerechnet er, der mit nicht einmal 30 Jahren das fundamentale Bewegungsgesetz der modernen Wirtschaftsform, die den Kapitalismus kennzeichnende Instabilität entschlüsselt hatte, an die später Schumpeter und Hyman Minsky anschließen sollten – dass ausgerechnet er „das Proletariat“ fortan als statisches Kollektiv formierte, ist beinahe schon grotesk: Wie viele Mühen und abwegige Beweisführungen im „Kapital“ hätte sich Marx erspart, wenn er sich von der Überzeugung hätte lösen können, im Kapitalismus erhalte der Kapitalist sein Kapital (Mehrwert) – und der Arbeiter sich selbst und sein Elend.

Wie schön, dass Marx sich so gründlich geirrt hat: Natürlich wollen alle ausgebeuteten Arbeiter am Ende kleine Bourgeois sein – und die meisten sind es, Kapitalismus sei Dank, als „abhängig Beschäftigte“ hierzulande längst auch geworden. Ist Marx damit erledigt? Nur noch ein Fall für Ideenhistoriker? Oder ist es ganz im Gegenteil so, dass Marx angesichts der multiplen Geld-, Kredit-, System- und Kapitalismuskrisen irgendwie „doch recht hatte“ – so der journalistische Generalbass zum Doppeljubiläum (150 Jahre „Das Kapital“ in 2017; Marx’ 200. Geburtstag 2018)?

Wie wohltuend, dass sich von derlei Unsinnigkeiten in den beiden jüngsten großen Marx-Biographien keine Spur (mehr) findet. Der US-amerikanischer Historiker Jonathan Sperber* hat vor fünf Jahren als Erster erfolgreich den Versuch unternommen, Marx konsequent zu historisieren - und ihn uns eben damit als „aktuellen Autor“ empfohlen: „Marx hat unzweifelhaft wichtige Merkmale des Kapitalismus verstanden“, doch habe der Kapitalismus im 19. Jahrhundert „mit den heutigen Realitäten kaum etwas gemein“, so Sperber. Wohl wahr.

Gareth Stedman Jones, Karl Marx: Die Biographie, S. Fischer 2017, 32,00 Euro / Jonathan Sperber, Karl Marx: Sein Leben und sein Jahrhundert, C.H. Beck 2013, 29,95 Euro Quelle: PR

Doch leider hat Sperber daraus den Schluss gezogen, uns Marx (fast) allein als Kind der späten Goethe- und natürlich Hegel-Zeit vorzustellen – als bürgerlichen Denker, der ex negativo auf die idealistische Philosophie der Jahrhundertwende rekurrierte. Das allerdings ist seinerseits grob unhistorisch. Denn natürlich hat sich Marx’ Denken spätestens seit Mitte der 1840er Jahre (also seit er Ende 20 war!) auch und später fast ausschließlich an der (damals noch neuen) „sozialen Frage“ und der Arbeiterbewegung entzündet. Oder, um Sperbers Befund ironisierend gerade zu rücken: Marx hat unzweifelhaft wichtige Merkmale des Idealismus verstanden, doch hatte das 19. Jahrhundert, dem er entstammte (1818), mit den Realitäten um 1870, als er die Gesetze des Kapitalismus zu entdecken hoffte, kaum mehr etwas gemein.

Mehr noch: Man kann Marx’ Schriften geradezu als Dokumente einer zunehmenden Verzweiflung lesen: Die – auch stilistisch – höchst furorfreudige Leichtigkeit, mit der er in der protoindustriellen Welt den Topos des „Klassenkampfes“ mit den gängigen Aufklärungs-, Demokratie- und Freiheitsdiskursen der bürgerlichen Theoretiker verband (die Emanzipation der Entfremdeten, der durch das Opium der Religion Stillgelegten…), steht in einem krassen Gegensatz zu den kraftraubenden Mühen, die Gesetze einer Wirtschaftsform zu ergründen, die die Welt vor Marx’ Augen in weniger als 30, 40 Jahren ihrer Logik unterwarf - auf Kosten von schamlos ausgebeuteten Arbeitern.

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Insofern ist die noch recht druckfrische Biographie von Gareth Stedman Jones* eine ideale Ergänzung (und vielleicht auch die etwas bessere Wahl): Für den britischen Historiker steht fest, dass Marx, „wie ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet“. Anders gesagt: Auch Stedman Jones historisiert Marx konsequent, um ihn, wie Sperber, vom „Marxismus-Leninismus“ und „Maoismus“ zu reinigen. Der Unterschied besteht allein darin, dass der Brite Marx weniger von seinen Prägungen her entwirft, sondern ihn uns noch mehr als „Zeitgenossen“ (s)eines dynamischen 19. Jahrhunderts vorstellt.

An der „Aktualität“ von Marx’ Schriften ändert das übrigens nichts: Ein guter Historiker denkt in je zeitbezogenen Analogien, nicht in zeitübergreifenden Vergleichen - und so sollte man es auch mit Marx halten. Entfremdung und Ausbeutung (von Ressourcen und Arbeitern), der dem Kapitalismus inhärente Wachstumszwang, die chronische Instabilität der wirtschaftlichen Verhältnisse und nicht zuletzt die neo-oligarchische Kapitalkonzentration in der Hand von wenigen Privatleuten und Digitalunternehmen – ohne Marx, der das traditionelle Genre der Kultur- und Gesellschaftskritik als Wirtschaftskritik neu erfand, wird uns Heutigen auch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (Thomas Piketty) unverständlich bleiben.

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