Was ist das Problem? Ganz einfach: Vier Parteien wollen nicht regieren - und zwei können es nicht. AfD und Linkspartei mögen dem Protest eine Stimme geben, nichts weiter. Die 20-Prozent-SPD zieht es seit dem 24. September in die Opposition, aus guten Gründen: Man stelle sich vor, Parteichef Martin Schulz hätte sich am Wahlabend mit einem „Weiter so“ der Union in die Arme geworfen. Und der Christian-Lindner-FDP geht es nicht um liberale Politik, sondern um die Purifizierung eines „Neuanfangs“, den sie meint, Deutschland verpassen zu müssen - das ist, angesichts unseres insularen Wohlstands und bei aller Sympathie für eine politische Kursbesinnung, eine groteske, fast schon sektiererische Wahnvorstellung.
Zwei können es nicht - damit sind natürlich CDU und CSU gemeint. Die CDU hat sich ihren Willen zur politischen Gestaltung unter Angela Merkel gründlich abtrainiert und ist inhaltlich so ausgezehrt und abgemagert, dass die Grenze zu programmatischen Bulimie längst überschritten ist. Der durchregierungsverwöhnten CSU wiederum sind die 38 Prozent am Wahlabend wie ein Elektroschock in die Glieder gefahren. Die Partei ist dreifach paralysiert: von einem Machtkampf zwischen Horst Seehofer und Markus Söder, von ihrer Angst vor AfD und Freien Wählern mit Blick auf die Landtagswahl 2018 - und von der Sinnlosigkeit, mit der sie seit vier Jahren lauter Unsinnsprojekte verfolgt, die Maut, die Mütterrente, die Obergrenze.
Wie ist die Lage? Es ist fast schon komisch, dass ausgerechnet die Grünen in diesen Tagen die machtbereiteste Partei Deutschlands sind: Wenn es allein nach Cem Özdemir ginge, dem grün-schwarzen Liberalen mit dem wachen Sinn für die soziale Frage, würde er als Kanzler längst eine größtmögliche Koalition anführen.
Die FDP wiederum taumelt nach dem Ausstiegsdiktat ihres Alleinherrschers ziemlich konsterniert durch die Talk-Show-Republik. Parteichef Lindner hat sich mit der retweetfähigen Formel „Lieber nicht regieren als falsch“ in die Opposition verabschiedet und damit sogleich alle liberalaktivistischen Claqueure in den (sozialen) Medien hinter sich versammelt, die prompt brav sein „Rückgrat“ und seine „Standfestigkeit“ loben - gerade so, als habe Lindner die FDP vor einem Pakt mit dem radikal Bösen bewahrt. Ganz klar, der rednerisch versierte Lindner spekuliert auf einen Stimmenzuwachs in der Oppositionsrolle - auf die rhetorische Mobilisierung, Gewinnung und Verstetigung von Solidarität unter Bürgerlichen, die von Merkel enttäuscht sind und sich zur AfD nicht bekennen wollen.
Die Wette ist gewagt. Ob die Wähler bei einem erneuten Urnengang für mehr Gewinnergeist und Fortschrittsumarmung (FDP), für mehr Ressentiments und Protestsignale (AfD) oder für mehr Raute und Ruhe (Union) votieren würden, ist nicht ausgemacht. Zumal die FDP keine politischen Gründe für ihre Flucht vom Verhandlungstisch angeben kann. Naja, einen einzigen vielleicht: Dass die Liberalen sich hartnäckig (neuen) Transfermechanismen in der Europäischen Union widersetzen, ist aller Ehren wert. Aber sonst? Die Abschaffung des Soli? Wäre symbolpolitisch geboten, hülfe aber ausgerechnet Geringverdienern nicht, die ohnehin keine Steuern bezahlen. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung? Es gibt keinen Grund, ihn auf Teufel komm’ raus hinauszuzögern. Das Ende des Föderalismus in der Bildung? Als ob es der Weisheit letzter Schluss wäre. Die Digitalisierung des Landes? Ausgerechnet die FDP will hier nicht zehn, sondern unbedingt 20 Staatsmilliarden locker machen…? Kurzum: Die Fluchtursachen der FDP sind so geringfügig, dass sie es womöglich schwer haben wird, beim Wähler erfolgreich um Asyl zu bitten.
Immerhin, die SPD macht es den Freien Demokraten leicht: Es ist schlicht atemberaubend, wie bereitwillig und schnell sich die Partei das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen als Problem anverwandelt hat. Dass Martin Schulz sein trotziges „Nein“ zu Gesprächen mit der Union ohne Not und in eine völlig veränderte, unklare Lage hinein am Montag noch einmal bekräftigt hat, das war von beispielloser Naivität: Jeder politisch denkende Kopf musste wissen, dass mindestens zwei Verfassungsorgane - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel - nun streng staatsräsonale Töne anstimmen würden.
Wahrscheinlich deshalb lief Merkel bereits am Montagabend so gelöst wie seit Jahren nicht durch die Fernsehstudios: Sie erklärte sich zur unangefochtenen Spitze der Union - und verordnete ihren Vorstandskollegen ernste Gelassenheit / gelassenen Ernst, um das Wahlvolk in dieser angespannten Lage sogleich wieder auf die Vorzüge des „Sie-kennen-mich“ einzustimmen. Die machtinstinktive Geschlossenheit, ja: der kaderartige Korpsgeist, mit der die geschwächte und ideell entkernte CDU wie auf Knopfdruck einen Diskurs der „Verantwortung(slosigkeit)“ anstimmt, um beim Wahlvolk wieder in die Offensive zu kommen, ist fast so stupend wie die Selbstviktimisierungsbereitschaft der Sozialdemokratie: Keine 24 Stunden vergingen, bevor fast alle Spitzenkräfte sich anschickten, ihrem 100-Prozent-Martin von der Fahne zu gehen.
Jamaika ist tot
Und wie geht es jetzt weiter? Jamaika ist tot. Eine Neuwahl in absehbarer Zeit verbietet sich, weil die Politik einen Wählerauftrag zu erfüllen hat - und nicht Wähler einen Politikerauftrag zu erfüllen haben. Und ein Zurück zur Großen Koalition - es wäre die dritte seit 2005 - ist nicht wünschbar, für die SPD nicht, aber auch nicht für das Land: Wie sollen Union und SPD über die geschäftsführende Regierung dieser Postwahlwochen hinaus wachsen und eine gemeinsame Basis für vier weitere Jahre finden? Eine große Koalition würde tagespolitisch ihren Dienst tun und das zufällig Anfallende maximal gewissenhaft bearbeiten können - nicht mehr. Sie bestünde aus drei dringend therapiebedürftigen Partnern, die sich in den vergangenen Monaten lustvoll auseinandergelebt haben, sich abgrundtief misstrauen - und identitätskriselnd um sich selbst kreisen.
Nein, des Rätsels (Übergangs-)Lösung wird eine Minderheitsregierung der Union sein, die sich projektweise verpartnert zur versuchsweisen Lösung wirklich wichtiger Fragen: Wie geht Deutschland mit der Konzentration von Macht und Geld in der Hand von (Digital-)Konzernen und Privatleuten um? Welche Instrumente sind hilfreich für den Ausbau von erneuerbaren Energien, für das Ende des Verbrennungsmotors, für den Ausstieg aus der Kohleverstromung, zur Erreichung unserer Klimaziele? Wie bereiten wir unsere Sozialsysteme, unsere Schulen und unseren Arbeitsmarkt auf den Advent der Künstlichen Intelligenz vor? Wie garantieren wir Normalverdienern den Erwerb von Wohneigentum in den Städten? Welche wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Parameter sollen gelten für eine gelingende Europapolitik? Und wenn es auf all’ diese Fragen in den nächsten Monaten keine Antworten gibt, umso besser: Hauptsache, diese Fragen stehen ergebnisoffen im Raum, werden kontrovers diskutiert - und stehen dann vielleicht in ein, zwei Jahren zur Abstimmung.
Eine Minderheitsregierung stärkt das Parlament, belebt den politischen Streit, flexibilisiert den Berliner Betrieb und suspendiert vorübergehend die Parteitaktik - aber das ist längst noch nicht alles: Sie ist auch eine zeitgemäße Antwort auf das zersplitterte Parteiensystem. Wenn anno 2017 Zweierbündnisse jenseits der großen Koalition unmöglich geworden sind und Dreierbündnisse vorübergehend nicht gelingen, dann haben wir es mit „Instabilität“ nur unter der Voraussetzung eines politischen Denkens zu tun, das in den Sechzigerjahren steckengeblieben ist.
Jamaika-Gespräche gescheitert - Statements der Beteiligten
„Meine Damen und Herren,
es ist ja schon der frühe Morgen, und ich möchte mich als erstes Mal bei unseren Gastgebern hier in der baden-württembergischen Landesvertretung bedanken, die an einem wirklich, ich würde fast sagen historischen Tag uns Gastfreundschaft gewährt haben. Hinter uns liegen vier Wochen intensivster Verhandlungen, und ich glaube, ich kann für CDU und CSU sagen, dass wir nichts unversucht gelassen haben, um doch eine Lösung zu finden.
Wir haben dabei vieles erlebt, sehr unterschiedliche Kulturen von Verhandlungsstilen, und bei den Grünen durchaus bei allen Sympathien manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, bei der FDP sehr entschieden, aber wir glauben, dass wir auf einem Pfad waren, auf dem wir hätten eine Einigung erreichen können.
Natürlich mit Abstrichen, das beinhaltet eine Koalition, bei der Partner sich finden sollen, die sehr sehr große Wege zu gehen haben, und deshalb bedaure ich es auch, bei allem Respekt für die FDP, dass wir keine gemeinsame Lösung finden konnten.
Wir hatten aus unserer Perspektive der Union sehr vieles erreicht in diesen Verhandlungen, was die Stabilität des Landes gestärkt hätte, sowohl die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung, bei den schweren Fragen der Erwartungen der Grünen an die Leistungen im Blick auf den Klimaschutz, aber vor allen Dingen auch was soziale Fragen anbelangt, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den ländlichen Räumen.
Wir haben interessanterweise die erste Einigung über die Landwirtschaftspolitik erzielt, das wäre und ist, weil es bleibt, ja auch ein interessanter Bestandteil, was vielleicht auch versöhnend auf unsere Gesellschaft hätte wirken können, und jetzt müssen wir trotzdem mit den Tatsachen umgehen. Tatsache heißt, dass wir keine Sondierungsgespräche erfolgreich abschließen konnten. Das bedeutet, dass ich morgen den Bundespräsidenten kontaktieren werde, ihn natürlich informieren werde über den Stand der Dinge, und dass wir dann schauen müssen, wie sich die Dinge weiter entwickeln.
Wir, CDU und CSU gemeinsam, ich sage das ausdrücklich, werden Verantwortung für dieses Land auch in schwierigen Stunden übernehmen und auch weiter sehr verantwortungsvoll handeln. Denn die Menschen in Deutschland haben sich heute mehrheitlich gewünscht, dass wir zusammenfinden. Und denen fühlen wir uns verpflichtet. Und wir werden dazu beitragen, mit unseren Kräften, die wir haben, zum Zusammenhalt dieses Landes auch einen Beitrag zu leisten.
Natürlich war ein ganz zentrales Thema das Thema der Migration, der Zuwanderung, hier gab es nicht die großen Unterschiede mit der FDP, aber hier so unsere Einschätzung hätten wir auch eine Lösung mit den Grünen finden können. Und wir wissen, dass wir dieses Land zusammenführen müssen und so werden wir in den nächsten Wochen in einem Weg, den wir nicht genau beschreiben können, natürlich unser verantwortliches Handeln auch weiter fortsetzen.
Es ist ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland. Aber ich will Ihnen sagen, ich als Bundeskanzlerin, als geschäftsführende Bundeskanzlerin, werde alles tun, das dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird.“
„Meine Damen und Herren,
wir haben jetzt vier Wochen hart gearbeitet, um eine Regierung für die Bundesrepublik Deutschland zu bilden. Es waren intensive Gespräche, die auch für mich eine inhaltliche und auch persönliche Bereicherung waren - bei den Verhandlungspartnern, mit denen wir uns beinahe täglich getroffen haben.
Die FDP ist heute ausgestiegen, hat die Verhandlungen abgebrochen. Das ist schade. Das bedeutet gleichzeitig eine Belastung für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt, weil wir trotz großer politischer Herausforderungen national und weltweit im Moment eben nicht zu einer neuen Regierungsbildung kommen konnten.
In allen Themenbereichen, in denen wir unterwegs waren, hatten wir entweder schon Verständigungen, zum Beispiel in der schon angesprochenen Landwirtschaft. Das war ja zwischen Union und Grüne ein besonders schwieriges Feld. Aber die Akzeptanz, dass wir eine Landwirtschaft, die auch verstärkt mit den Bauern der ökologischen Förderung zugeführt wird, war das schon ein sehr bemerkenswertes Ergebnis. Auch in vielen anderen Bereichen, wenn es um den Wohnungsbau, um soziale Fragen, um wirtschaftliche Fragen ging, waren die Ergebnisse zum Greifen nahe.
Ich bin über weite Stecken des heutigen Tages davon ausgegangen, dass es am Ende dieses Tages auch zur Regierungsbildung oder zur Koalitionsbildung kommen kann im Sinne von Sondierungsergebnissen, die wir unseren Parteigremien vorlegen können. Ich sage ausdrücklich, auch in der ganzen schwierigen Frage der Zuwanderung, eines Regelwerks für die Zuwanderung, das alle Aspekte umfasst, von der Bekämpfung der Fluchtursachen bis zur Begrenzung der Zuwanderung, wäre eine Einigung möglich gewesen.
Das hätte uns ermöglicht, eine Antwort auf das Wahlergebnis zu geben, nämlich die Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland zu überwinden und politisch radikale Kräfte zurückzudrängen. Das wäre die erste Voraussetzung gewesen. Deshalb sage ich, es ist schade, dass es nicht gelungen ist, dies zum Ende zu führen, was zum Greifen nahe war.
Ich habe heute vor den beiden Delegationen der CDU und der CSU der Bundeskanzlerin gedankt. Gedankt für diese Verhandlungsführung, die sie ohne Unterbrechung in diesen vier Wochen persönlich durchgeführt hat. Das erfordert höchsten Einsatz, höchste Konzentration, höchste Kompetenz. Und die Delegationen von CDU und CSU haben dies mit einem lang anhaltenden Beifall zum Ausdruck gebracht. Danke, Angela Merkel, für diese vier Wochen.“
„Ja meine Damen und Herren,
wir haben Stunden, Tage und Wochen miteinander gerungen, und heute am Tag länger als wir uns ursprünglich vorgenommen haben. Wir haben als Freie Demokraten in den letzten Wochen zahlreiche Angebote zum Kompromiss unterbreitet, unter anderem zu Beginn in der Steuerpolitik, in der Europapolitik, in Fragen der Einwanderung, in der Bildungspolitik. Denn wir wissen, das Politik vom Ausgleich lebt. Und mit knapp elf Prozent kann man nicht den Kurs einer ganzen Republik diktieren.
Unsere Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln zeigen wir ja übrigens auch in Regierungsbeteiligungen in den Ländern mit Union, mit SPD und mit den Grünen.
Nach Wochen liegt aber heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor. Und dort, wo es Übereinkünfte gibt, sind diese Übereinkünfte erkauft mit viel Geld der Bürger oder mit Formelkompromissen. Wir haben gelernt, dass auch durchaus gravierende Unterschiede zwischen CDU und CSU und FDP überbrückbar gewesen wären. Da ist wieder auch eine neue politische Nähe, auch menschliche Nähe, gewachsen. Aber am heutigen Tag wurde keine Bewegung, keine neue Bewegung, keine weitere Bewegung, erreicht, sondern es wurden Rückschritte gemacht, weil auch erzielte Kompromisslinien noch einmal in Frage gestellt worden sind.
Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten. Eine Vertrauensbasis und eine gemeinsam geteilte Idee, sie wären aber die Voraussetzung für stabiles Regieren.
Wir wissen nicht, was in den nächsten Jahren auf Deutschland in Europa und der Welt zukommt. Aber wenn dann vier Partner schon nicht in der Lage sind, bei dem Absehbaren einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, nach so langer Zeit und so intensivem Ringen, ist das keine Voraussetzung, dafür, dass auch auf das Unvorhersehbare angemessen reagiert werden kann. Wir werfen ausdrücklich niemandem vor, keinem unserer drei Gesprächspartner, dass er für seine Prinzipien einsteht. Wir tun es aber auch für unsere Prinzipien und unsere Haltung.
Unser Einsatz für die Freiheit des Einzelnen in einer dynamischen Gesselschaft, die auf sich vertraut, die war nicht hinreichend repräsentiert in diesem Papier. Und wir haben heute an diesem entscheidenden Tag nicht den Eindruck gewonnen, obwohl allen die Dramatik der Situation bewusst war, dass dieser Geist grundlegend veränderbar gewesen wäre.
Die Freien Demokraten sind für Trendwenden gewählt worden. Und wer dieses Dokument ansieht, sieht: Es war nicht zu ambitioniert, es war nichts unrealistisch, sondern maßvoll. Wir sind für die Trendwenden gewählt worden, aber sie waren nicht erreichbar, nicht in der Bildungspolitik, nicht bei der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, nicht bei der Flexibilisierung unserer Gesellschaft, nicht bei der Stärkung der Marktwirtschaft und bis zur Stunde auch nicht bei einer geordneten Einwanderungspolitik.
Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht verantworten, viele der diskutierten Maßnahmen halten wir sogar für schädlich. Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und all das wofür wir Jahre gearbeitet haben. Wir werden unsere Wählerinnen und Wähler nicht im Stich lassen, indem wir eine Politik mittragen, von der wir im Kern nicht überzeugt sind. Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen.“
„Ja, die einzig mögliche Konstellation, die demokratisch möglich gewesen wäre, wurde von der FDP heute Abend leider zunichte gemacht und abgelehnt. Unser Land zeichnet sich auch dadurch aus, dass wir die Kultur des Kompromisses kennen und schätzen. Es ist für eine funktionierende Demokratie geradezu konstruktiv, geradezu elementar, (den) Gegenüber ernst zu nehmen. Wir haben auch aus einer Haltung der Verantwortung dem eigenen Land gegenüber, Europa gegenüber und der Bedeutung unseres Landes der Welt gegenüber, man kann es auch gerne als eine Haltung des Patriotismus nennen, mit dieser Verantwortung sind wir in die Gespräche rein gegangen, um Verantwortung für unsere gemeinsame Republik zu übernehmen und wir sind dabei in vielen Themen an die Schmerzgrenze und manchmal auch über die Schmerzgrenze gegangen.
Weil wir wussten, es ist wichtig für unser Land, es ist wichtig für die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland, dass jeder sich bewegen muss, wenn man gemeinsam an das große Ganze denken möchte. Jetzt haben wir die Situation, dass unsere Gesellschaft vor großen Herausforderungen steht, es ist die große Menschheitsfrage, die Abwendung der Klimakrise, des Klimawandels, es ist aber auch, wie wir Arbeitsplätze sichern und gleichzeitig der Wohlstand einer ist, der allen in der Gesellschaft zugute kommt. Es ist die Frage, wie wir schaffen, dass die Flüchtlinge in der Gesellschaft ankommen, dass wir Humanität einerseits und Ordnung andererseits gewährleisten, damit wir auch die Menschen im Lande davon überzeugen und mitnehmen auf diesem Weg und es ist schließlich die Frage, wer wird die Antwort geben auf die Rede von Präsident Macron, wer wird die Antwort geben auf die Rede von Kommissionspräsident Junker und wer wird dieses Europa voranbringen, wenn Deutschland jetzt in der Situation, in der es besonders wichtig wäre, erstmal ausfällt.
Ich will, wie es Katrin Göring-Eckardt gerade schon gesagt hat, erstmal meiner Co-Chefin herzlich danken, die das wirklich großartig von Anfang bis Ende durchgeführt hat, mit einer Wahnsinnskompetenz und mit einer Wahnsinnsgeduld. Und ich will auch herzlich danken dem Grünen-Sondierungsteam, die die Stärke dieser Partei Bündnis 90/Die Grünen, all ihrer Vielfalt und Breite abbildet. Alle haben sich da eingebracht und ihren Beitrag geleistet, dass wir für die Sache, für die wir brennen, gut verhandelt haben und vieles erreicht haben.
Ich will das ausdrücklich sagen. Eine Verständigung wäre möglich gewesen, guten Willen vorausgesetzt. Wir waren zu dieser Verständigung bis zur letzten Sekunde bereit, auch da noch mal weiter zu gehen, wo man eigentlich nicht mehr weitergehen kann. Aber das setzt eben voraus, dass alle diese Bereitschaft haben - und ein Partner hatte sie heute Abend offensichtlich nicht, und er hatte sie nicht erst heute Abend offensichtlich nicht, sondern auch schon am Start des Tages offensichtlich nicht.
Ich finde, meine Partei Bündnis 90/Die Grünen hat sich da wirklich toll präsentiert, mit einer hohen Sachkompetenz, brennen für die Sache, aber immer bereit dazu, dass man die Sachen vom Ende her denkt und deshalb bereit ist, auch auf den anderen zuzugehen.
Darum auch der Respekt vor unseren Verhandlungspartnerinnen und Verhandlungspartnern, auch ich will ganz besonders der Bundeskanzlerin danken, die sich von Anfang bis Ende bemüht hat, die widerstrebenden Ansichten zusammenzubringen, für ein gemeinsames Ganzes. Ich will mich ausdrücklich bedanken auch bei Horst Seehofer und seiner Partei, der ebenfalls aus einer schwierigen Perspektive kommend seinen Beitrag versucht hat zu leisten, dass wir am Ende zusammenkommen. Herzlichen Dank.“
„Ich will ausdrücklich sagen, dass wir sehr viel mehr Verständnis füreinander gewonnen haben in dieser Zeit. Und dass es für uns staatspolitische Verantwortung ist, auch bis zum Schluss gesprächsbereit zu bleiben. Das waren wir auch heute Abend, das waren wir auch heute den ganzen Tag, so wie wir es vier Wochen lang gewesen sind. Ich will ausdrücklich sagen, dass ich davon ausgehe, dass dieses Bündnis hätte zustandekommen können.
Wir waren an wenigen Punkten am Schluss noch auseinander, ja, in der Tat, und ich bin sogar überzeugt davon, dass es nicht mehr lange Zeit gebraucht hätte, auch da zusammenzukommen.
Ich glaube, es wäre für dieses Land auch ein gutes Signal gewesen. So gespalten, wie es zu sein scheint, wenn sich so unterschiedliche Partner darauf verständigen, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Gerade bei den so zentralen Themen, bei denen wir am Ende doch näher beieinander waren, als wir es gedacht hätten. Bei der Menschheitsfrage Klimaschutz, bei der Frage der Landwirtschaft, ja selbst bei dem großen Thema Migration - glaube ich - wäre es gelungen, nicht nur, dass sich diese Partner einigen, sondern dass sie auch dazu beitragen können, dass dieses Land wieder zusammenwächst, gemeinsam weiter vorankommt. Daran haben wir hart gearbeitet. Und ich will mich bei allen bedanken, die daran mitgearbeitet haben.
Ich bedanke mich herzlich, ganz besonders herzlich, bei den Menschen, die jetzt hier hinter uns stehen, und bei Cem Özdemir, der neben mir steht, weil wir in dieser Zeit tatsächlich gespürt haben, das machen wir gemeinsam, das machen wir als Partei gemeinsam - auch in dieser so schwierigen Konstellation, die sich niemand ausgesucht hatte, von der niemand gedacht hätte, dass wir sie jemals verhandeln würden.
Ich will mich aber auch ganz ausdrücklich bedanken bei der Bundeskanzlerin. Und das sage ich nicht nur für mich, das sage ich für uns alle, für die komplette grüne Delegation, dafür, dass sie in Verantwortung für dieses Land immer wieder weitergesprochen hat, immer wieder nach neuen Möglichkeiten, nach neuen Kompromissen, nach neuen Wegen gesucht hat. Ganz herzlichen Dank also von uns an Angela Merkel und an die vielen Verhandlungspartner, die wir während dieser Zeit hatten, an eine Union, die die Verantwortung mit übernehmen wollte.
Die FDP hat sich entschieden, sie haben sich anders entschieden, sie haben sich nicht für gemeinsame Verantwortung entschieden, das müssen wir respektieren. Aber ich sage ganz klar, wir werden in dieser Haltung, in der Verantwortung für unser Land auch die nächsten Wochen und Monate gestalten.“
Tatsächlich besteht die „Bewährungsprobe“ (Schäuble) der Politik nicht in ihrer akuten Koalitionsunfähigkeit, sondern darin, der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit moderner Wähler institutionell gerecht zu werden. Im postideologischen Zeitalter können Wähler gleichzeitig den Familiennachzug gutheißen und die ultralockere Geldpolitik der EZB für eine Katastrophe halten, mehr sichere Herkunftsländer definieren wollen und glühende Anhänger der EU-Reformen von Emmanuel Macron sein, den sofortigen Kohleausstieg präferieren und das Ende des Solidaritätszuschlags. Die Phrase vom postideologischen Zeitalter ist mehr als eine Phrase - und es ist deshalb so merkwürdig wie befremdlich, dass SPD, FDP, CSU und Grüne derzeit mal wieder mit der Produktion und Distribution besonders stabiler Weltbilder beschäftigt sind.
Das heißt freilich nicht, dass die Merkel-CDU mit ihrer Nicht-Politik richtiger läge, im Gegenteil: Die Indifferenz der Kanzlerin ist keine Antwort auf den Meinungspluralismus parteilich ungebundener Wähler, sondern der Versuch seiner Einhegung und Abschaffung. Dass Merkel seit Jahren maßgeblich zu „instabilen Verhältnissen“ beiträgt, zu deren Beseitigung sie sich den Wählern anempfiehlt, ist eine Kaltschnäuzigkeit, die beinahe sprachlos macht. Merkel muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den politischen Streitraum im Namen des Konsenses, der Alternativlosigkeit und des Machterhalts gefährlich verengt zu haben.
Jamaika gescheitert: Drei Szenarien möglich
Eine schwarz-rote Koalition ist rechnerisch möglich. Theoretisch könnten CDU, CSU und SPD also Verhandlungen aufnehmen. Die SPD ist aber nicht bereit für eine Neuauflage der „GroKo“. Am vergangenen Freitag schloss die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles eine große Koalition erneut aus. Auch Parteichef Martin Schulz sieht die SPD nur in der Opposition.
Fazit: nahezu ausgeschlossen
Einer möglichen Koalition aus CDU/CSU und FDP fehlen 29 Sitze zur Mehrheit im Bundestag. Schwarz-Gelb müsste also bei Abstimmungen auf Stimmen aus den anderen Fraktionen hoffen. Das Gleiche gilt für Schwarz-Grün; hier fehlen 42 Sitze zur Mehrheit. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist jedoch keine Freundin wechselnder, unsicherer Mehrheiten. Eine Minderheitsregierung hat es nach einer Bundestagswahl auch noch nie gegeben, eben weil sie so riskant ist.
Fazit: unwahrscheinlich
Der Weg zu einer Neuwahl ist verschlungen - weil es die Verfassung so will. Vor eine Neuwahl unter den aktuellen Umständen hat das Grundgesetz nämlich die Kanzlerwahl gestellt.
Der Bundespräsident muss zunächst jemanden für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Diese Person wird Kanzler(-in), wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages für sie stimmen („Kanzlermehrheit“). Bisher wurden alle Kanzler der Bundesrepublik in diesem ersten Wahlgang gewählt.
Findet der Vorschlag des Bundespräsidenten keine Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Der Bundestag hat jetzt zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kanzler zu einigen. Die Zahl der Wahlgänge ist nicht begrenzt, ebenso wenig die Zahl der Kandidaten. Dem Bundestag steht es also frei, die zwei Wochen ungenutzt verstreichen lassen - oder etwa fünfzehn Mal zu versuchen, einen Kandidaten zu wählen.
Kommt auch in diesen zwei Wochen keine Kanzlermehrheit zustande, beginnt die dritte Wahlphase. In diesem letzten Wahlgang reicht schon die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen gewinnt.
Nun muss wieder der Bundespräsident handeln. Wird jemand nur mit relativer Mehrheit gewählt, kann der Bundespräsident sie zur Kanzlerin oder ihn zum Kanzler einer Minderheitsregierung ernennen - er kann aber auch den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen muss es dann Neuwahlen geben.
Fazit: wahrscheinlich
Wer seit Jahren an der Abschaffung einer lebendigen „agonistischen Sphäre des öffentlichen Wettstreits“ (Chantal Mouffe) arbeitet und das genuin Politische in einer Demokratie - die Gegnerschaft von Wertvorstellungen, Meinungen und normativen Zielen - abschaltet, um sich den Wählern als hohle Mitte zu empfehlen, darf sich nicht wundern, wenn sich Agonismus in Antagonismus verwandelt - und statt Gegnern plötzlich Feinde ins Parlament einziehen, die das Regieren erschweren.
Zeit zur Besinnung also, Zeit für Experimente: Wie sähe eine postkoalitionäre Politik aus, die den postideologischen Interessen der Wähler Rechnung trägt? Mit einer Minderheitsregierung ließe sich eine belebende Probe aufs Exempel machen: Wenn Union, FDP und AfD zusammen die Aussetzung des Familiennachzugs verlängern, wüsste der Wähler sich darauf ebenso einen Reim zu machen wie auf ein Nein der SPD zum Ausstieg aus der Kohle - oder auf eine Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung, die ein Innenminister der Union auf Antrag von SPD, FDP, Grünen und Linken umzusetzen hätte. Kurzum: Ein Koalitionsmoratorium wäre nicht gleichbedeutend mit Handlungsunfähigkeit und Destabilisierung, sondern die parlamentarische Praxis würde sich im Gegenteil als Wiedereinübung in das Politische erweisen - und die Demokratie stabilisieren.