Tauchsieder Mehr Demokratie wagen

Und jetzt? Natürlich eine Minderheitsregierung. Sie stärkt das Parlament, belebt den politischen Streit, flexibilisiert den Berliner Betrieb - und suspendiert vorübergehend die Parteitaktik.

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Alleine regieren? Quelle: Illustration

Was ist das Problem? Ganz einfach: Vier Parteien wollen nicht regieren - und zwei können es nicht. AfD und Linkspartei mögen dem Protest eine Stimme geben, nichts weiter. Die 20-Prozent-SPD zieht es seit dem 24. September in die Opposition, aus guten Gründen: Man stelle sich vor, Parteichef Martin Schulz hätte sich am Wahlabend mit einem „Weiter so“ der Union in die Arme geworfen. Und der Christian-Lindner-FDP geht es nicht um liberale Politik, sondern um die Purifizierung eines „Neuanfangs“, den sie meint, Deutschland verpassen zu müssen - das ist, angesichts unseres insularen Wohlstands und bei aller Sympathie für eine politische Kursbesinnung, eine groteske, fast schon sektiererische Wahnvorstellung.

Zwei können es nicht - damit sind natürlich CDU und CSU gemeint. Die CDU hat sich ihren Willen zur politischen Gestaltung unter Angela Merkel gründlich abtrainiert und ist inhaltlich so ausgezehrt und abgemagert, dass die Grenze zu programmatischen Bulimie längst überschritten ist. Der durchregierungsverwöhnten CSU wiederum sind die 38 Prozent am Wahlabend wie ein Elektroschock in die Glieder gefahren. Die Partei ist dreifach paralysiert: von einem Machtkampf zwischen Horst Seehofer und Markus Söder, von ihrer Angst vor AfD und Freien Wählern mit Blick auf die Landtagswahl 2018 - und von der Sinnlosigkeit, mit der sie seit vier Jahren lauter Unsinnsprojekte verfolgt, die Maut, die Mütterrente, die Obergrenze.

Wie ist die Lage? Es ist fast schon komisch, dass ausgerechnet die Grünen in diesen Tagen die machtbereiteste Partei Deutschlands sind: Wenn es allein nach Cem Özdemir ginge, dem grün-schwarzen Liberalen mit dem wachen Sinn für die soziale Frage, würde er als Kanzler längst eine größtmögliche Koalition anführen.

Die FDP wiederum taumelt nach dem Ausstiegsdiktat ihres Alleinherrschers ziemlich konsterniert durch die Talk-Show-Republik. Parteichef Lindner hat sich mit der retweetfähigen Formel „Lieber nicht regieren als falsch“ in die Opposition verabschiedet und damit sogleich alle liberalaktivistischen Claqueure in den (sozialen) Medien hinter sich versammelt, die prompt brav sein „Rückgrat“ und seine „Standfestigkeit“ loben - gerade so, als habe Lindner die FDP vor einem Pakt mit dem radikal Bösen bewahrt. Ganz klar, der rednerisch versierte Lindner spekuliert auf einen Stimmenzuwachs in der Oppositionsrolle - auf die rhetorische Mobilisierung, Gewinnung und Verstetigung von Solidarität unter Bürgerlichen, die von Merkel enttäuscht sind und sich zur AfD nicht bekennen wollen.

Die Wette ist gewagt. Ob die Wähler bei einem erneuten Urnengang für mehr Gewinnergeist und Fortschrittsumarmung (FDP), für mehr Ressentiments und Protestsignale (AfD) oder für mehr Raute und Ruhe (Union) votieren würden, ist nicht ausgemacht. Zumal die FDP keine politischen Gründe für ihre Flucht vom Verhandlungstisch angeben kann. Naja, einen einzigen vielleicht: Dass die Liberalen sich hartnäckig (neuen) Transfermechanismen in der Europäischen Union widersetzen, ist aller Ehren wert. Aber sonst? Die Abschaffung des Soli? Wäre symbolpolitisch geboten, hülfe aber ausgerechnet Geringverdienern nicht, die ohnehin keine Steuern bezahlen. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung? Es gibt keinen Grund, ihn auf Teufel komm’ raus hinauszuzögern. Das Ende des Föderalismus in der Bildung? Als ob es der Weisheit letzter Schluss wäre. Die Digitalisierung des Landes? Ausgerechnet die FDP will hier nicht zehn, sondern unbedingt 20 Staatsmilliarden locker machen…? Kurzum: Die Fluchtursachen der FDP sind so geringfügig, dass sie es womöglich schwer haben wird, beim Wähler erfolgreich um Asyl zu bitten.

Was das Jamaika-Aus für die deutsche Wirtschaft bedeutet
Logo Made in Germany Quelle: dpa
Bildkombo aus verschiedenen Branchen Quelle: dpa
Wahlzettel Quelle: dpa
Mercedes-Stern Quelle: AP
Schriftzug Solar von SMA Solar Quelle: dpa

Immerhin, die SPD macht es den Freien Demokraten leicht: Es ist schlicht atemberaubend, wie bereitwillig und schnell sich die Partei das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen als Problem anverwandelt hat. Dass Martin Schulz sein trotziges „Nein“ zu Gesprächen mit der Union ohne Not und in eine völlig veränderte, unklare Lage hinein am Montag noch einmal bekräftigt hat, das war von beispielloser Naivität: Jeder politisch denkende Kopf musste wissen, dass mindestens zwei Verfassungsorgane - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel - nun streng staatsräsonale Töne anstimmen würden.

Wahrscheinlich deshalb lief Merkel bereits am Montagabend so gelöst wie seit Jahren nicht durch die Fernsehstudios: Sie erklärte sich zur unangefochtenen Spitze der Union - und verordnete ihren Vorstandskollegen ernste Gelassenheit / gelassenen Ernst, um das Wahlvolk in dieser angespannten Lage sogleich wieder auf die Vorzüge des „Sie-kennen-mich“ einzustimmen. Die machtinstinktive Geschlossenheit, ja: der kaderartige Korpsgeist, mit der die geschwächte und ideell entkernte CDU wie auf Knopfdruck einen Diskurs der „Verantwortung(slosigkeit)“ anstimmt, um beim Wahlvolk wieder in die Offensive zu kommen, ist fast so stupend wie die Selbstviktimisierungsbereitschaft der Sozialdemokratie: Keine 24 Stunden vergingen, bevor fast alle Spitzenkräfte sich anschickten, ihrem 100-Prozent-Martin von der Fahne zu gehen.

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