
Um den so genannten Wahlkampf von Angela Merkel (CDU) zu verstehen, muss man den Moment ihrer größten Niederlage kennen. Es war der 18. September 2005, 18 Uhr, der Abend der vorletzten Bundestagswahl. Zur Erinnerung: Kanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte 2003 die größte Sozialreform der deutschen Nachkriegsgeschichte an der eigenen Partei vorbei durchs Parlament gepeitscht. Die Genossen in NRW dankten es ihm im Mai 2005 mit Landtagswahl-Enthaltung - Düsseldorf fiel an Jürgen Rüttgers (CDU). Schröder ordnete Neuwahlen an. Und Merkels Bundespräsident Horst Köhler bewilligte sie, voller Reformpanik, gewissermaßen im Notverordnungsstil, mit weit aufgerissenen Augen, weil Deutschland, Schröders weitreichenden Neuordnungen zum Trotz, noch immer am Abgrund stehe (so Köhlers Text) - und weil nur noch eine thatcheristisch auftrumpfende Schwarz-Gelb-Politik (so Köhlers Subtext) die Republik vor dem nahen Ruin retten könne. Das Land war damals trunken vor Veränderungseifer, das Duo Merkel/Guido Westerwelle (FDP) besoffen vor Glück, also schenkte Angela Merkel einen hochprozentigen Reformprimitivo nach dem nächsten aus: Steuerradikalvereinfachung, Rentenrundumreform, Arbeitnehmnerinteressenverbot, Krankenkassen-Kopfpauschale..., so lange, bis uns Wählern schließlich doch ein wenig schwindlig und schummrig zumut' wurde.
Spätestens eine Woche vor der Wahl ahnten wir: Das Merkelsche Deregulierungsdestillat und Privatisierungsgebräu ist aus unreinem Liberalismus gewonnen und äußerst schwer bekömmlich. Nur Merkel berauschte sich noch sieben weitere Tage an ihren Reformmixgetränken - und wachte am Wahlsonntag prompt mit einem schweren Kater auf. Gerhard Schröder hatte sie auf der Zielgeraden beinahe noch abgefangen und Schwarz-Gelb, gemessen an den Umfragewerten, eine krachende Niederlage beigebracht. Und während sie in der CDU bereits die Messer wetzten, um der Karriere ihrer ungeliebten Spitzenkandidatin ein meuchlerisches Ende zu bereiten, legte Testosteron-Schröder im Fernsehen einen wein- bis feindselig triumphierenden Auftritt hin, der allein Merkel die Solidarität in der Union und damit auch Parteivorsitz und Kanzlerschaft sicherte. Für Merkel selbst war es eine politische Nahtoderfahrung, von der sie sich nie wieder richtig erholte. Seit sie um ein Haar Opfer ihres übermotivierten Einsatzes für konkrete politische Ziele wurde, fallen ihre politischen Dienstnachweise betont nüchtern und ihre Wahlkämpfe dezidiert ambitionslos aus. "Asymmetrische Demobilisierung" nennen sie das in der CDU - es ist die Kunst, die potenzielle Kundschaft der politischen Konkurrenz durch die völlig unprogrammatische Übernahme ihrer Wahlkampfthesen vom Urnengang abzuhalten.
Angela Merkel ist damit glänzend gefahren - so glänzend, dass ihre Gefolgschaft heute alle Politik, die noch Spurenelemente von Gestaltungs- und Veränderungswillen enthält, als unziemliche Belästigung ihres gottgleichen Waltens ablehnt. Entsprechend erschöpft sich Merkels Regieren darin, eine Wirklichkeit, so wie sie sich gesellschaftlich vollzieht und entwickelt, politisch auf sich beruhen zu lassen. Es ist eine "Politik", die den Lauf der Welt gewissermaßen notariell beglaubigt und so lange als harmonia mundi reproduziert, bis zuletzt jeder Untertan sich wohlig in ihr aufgehoben fühlt - und jeden Eingriffsversuch als Störung der inneren Ordnung zurückweist. Anders gesagt: Angela die Große spiegelt sich in der Selbstzufriedenheit ihrer Wähler so wie ihre Wähler sich in der Selbstzufriedenheit von Angela Merkel spiegeln: "Sie kennen mich", sagte die Kaiserin in der Schlussansprache des so genannten Fernsehduells, „und jetzt wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend“ - zwölf Worte nur und doch das gesamte Regierungsprogramm. Und? Wenn nicht alle Anzeichen trügen und die Umfragen lügen, wird Angela I. uns auch die nächsten vier Jahre regieren. Dafür gibt es vor allem fünf Gründe.
Erstens
Den meisten Deutschen geht es prima. Wir sind gut durch die Krise gekommen, viele haben (gute) Arbeit, der Sozialstaat ist stabil. Dank Gerhard Schröder. Dass die SPD sich noch immer ihres grandiosen Erfolges schämt, das Land durch Sozialreformen mehr oder weniger krisenfest gemacht zu haben und dass die SPD damit Merkel auch noch die Chance einräumt, diesen Erfolg frech für sich zu reklamieren, ist und bleibt das größte Rätsel in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Dass die SPD es darüber hinaus nicht geschafft hat, Union und FDP davon abzuhalten, unbedingt notwendigen Korrekturen an den Sozialreformen als „Linksruck“ zu denunzieren, ist das zweite große Rätsel.