
Es ist gerade mal fünf Jahre her, da geisterte der Sarrazinismus durchs Land. Viele Deutsche fürchteten, Deutschland werde wegen zu vieler „Kopftuchmädchen… auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“. Auch gebe es „gute Gründe“ für Vorbehalte gegen Muslime: Keine andere Migrantengruppe trete „so fordernd“ auf, betone so sehr ihre Andersartigkeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel kam damals zu dem Schluss: „Multikulti ist gescheitert“. Tatsächlich gescheitert aber war die deutsche Ausländerpolitik.
Sie weigerte sich zunächst von rechts, „Gastarbeitern“ eine deutsche Perspektive zu eröffnen – und verhimmelte dann von links ein buntkulturelles Nebeneinander. Vom Anwerbestopp 1973 bis hin zur „Kinder-statt-Inder“-Kampagne im Jahr 2000 hielten vor allem CDU-geführte Regierungen an ihrer Devise fest, Arbeitsemigranten nur auf Zeit zu integrieren.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Mit der Folge, dass der Anpassungswille der Ausländer sowie die Bildungschancen und beruflichen Qualifikationsmöglichkeiten ihrer Kinder drastisch eingeschränkt waren. Zu den Nebenwirkungen eines Einwanderungsprozesses, den niemand wollte, gehörte eine aus Unkenntnis und Desinteresse erwachsende Angst vieler Deutscher vor „Überfremdung“. Die multikulturelle Gesellschaft wurde als Bedrohung verstanden, vor allem von den sozial Schwachen, die mit den „Fremden“ um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen konkurrierten.
Einwanderung wurde zum Reizthema, das Wahlen entscheiden konnte. Obwohl spätestens seit den Achtzigerjahren offensichtlich war, dass die Mehrheit der verbliebenen Migranten in Deutschland bleiben würde, suggerierte die Politik, sie würden auch in Zukunft in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Dieser Widerspruch, so der Historiker Ulrich Herbert, war die „wichtigste Ursache für die sich verschärfenden Auseinandersetzungen um die Ausländerfrage“, die ihren Höhepunkt fanden im Streit um die Asylpolitik und in ausländerfeindlichen Gewaltaktionen: Anfang der 1990er Jahre kam es nicht nur zu xenophoben Schlagzeilen über angebliche Nichtstuer und Schmarotzer, zu ressentimentgeladenen Anti-Ausländer-Kampagnen der Union (der damalige CSU-Chef Edmund Stoiber zum Beispiel warnte vor einer „durchrassten Gesellschaft“), sondern auch zu Brandanschlägen und Pogromen, in Hoyerswerda, Mölln und Solingen, die das Verhältnis zwischen Deutschen und Migranten auf lange Zeit belasten sollten.
Während sich die Stimmung der Mehrheitsgesellschaft gegen den Ausländer „an sich“ richtete, erschien er manchen Linken als Erlöser, der die Deutschen von sich selbst befreit und einer postnationalen Gesellschaft den Weg ebnet. Beides, die blinde Angst vor dem Fremden und seine blinde Idealisierung, diente nicht der Integration von Ausländern, sondern förderte die Entstehung „pluraler Monokulturen“ (Amartya Sen), die ihre Identität in Distanz, zuweilen sogar in Gegnerschaft zur Wahlheimat ausbildeten. Vor allem „Deutsche“ und „Muslime“ begegneten einander nicht mit Interesse, sondern mit Befangenheiten und Vorurteilen. Der Hauptvorwurf an die Adresse der Muslime: Mangelnde Integrationsbereitschaft. Das unterschwellige Motiv: Angst vor schleichender Islamisierung. Am Ende lud die Bundesregierung Muslime nicht als Bürger, sondern als Muslime zu „Islamkonferenzen“ ein, um sich von ihnen die Harmlosigkeit ihres Glaubens bestätigen zu lassen.
Was macht Merkel so sicher, dass es diesmal besser wird, dass „wir“ es diesmal „schaffen“? Die Mehrzahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind Syrer, Afghanen, Iraker – Muslime aus Ländern mit großem kulturellen Abstand. Wird uns die Integration dieser Menschen gelingen? Was werden wir ihnen – und uns – abverlangen müssen, damit sich das Scheitern des Multikulturalismus nicht wiederholt?