Das führt dazu, dass jeder politische Vorstoß heute von Regierungsseite wahlweise als "idealistische Spinnerei" abgetan wird, die sich mit den realpolitischen Zwängen (der Wirtschaft, der Globalisierung, der Konkurrenz, des Quartalsgewinns...) nicht ausreichend vertraut gemacht hat oder als Angriff auf die "individuelle Freiheit", den man schnellschnell pariert, um sich den Argumentationsaustausch darüber zu ersparen, was darunter heute zu verstehen wäre: Die Freiheit von Uli Hoeneß? Die Freiheit der Bankster? Die Freiheit des Konsumenten im Zeiten von NSA und Google-Algorithmus? Die Freiheit des Niedriglöhners zur materiellen Eigenverantwortung? Die Freiheit unsere naturberaubten Kindeskinder?
Anders gesagt: Der Politik- und Freiheitsbegriff der schwarz-gelben Bundesregierung ist nicht mal mehr negativ wie früher, indem er die "Freiheit von" etwas einer "Freiheit zu" etwas vorzieht und daraus die Konsequenz zieht, dass ein Staat sich möglichst zurückhaltend zu verhalten habe, sondern er beschreibt - dürrer denn je - die Freiheit, sich jeder Politik zu enthalten. Regieren von schwarz-gelb ist zynisch, defensiv, dagegen, bloße Abwehr von Politik - eine "Politik", die nur noch dazu da ist, um die Wirklichkeit, so wie sie gestern war, heute ist und morgen sein wird, geschehen zu lassen. Eine solche "Politik" ist nicht daran interessiert, die Welt und ihre Probleme zum Vorschein, sondern sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Sie gibt sich nicht mehr die Blöße des Arguments, sondern versteckt sich im gleißenden Licht der pseudoliberalen Parole. Es ist eine zutiefst antiaufklärerische Politik, eine Politik, die die Beste aller Welten vorfindet, um jeden Eingriffsversuch als Störung des Gleichgewichts zu denunzieren. Kurz, es ist eine Politik, die die Welt als gottgewollte Welt moralisch adelt, um sie in ihrem Lauf sich selbst zu überlassen. Christentum meets Liberalismus, Leibniz meets Mill - das ist der Kern des schwarz-gelben Projekts.
Bekanntlich hat schon Voltaire gegen diese gutgläubigen Optimismus polemisiert und gegen eine Welt gepoltert, in der alles mit allem zusammenhängt, um ihre Ordnung vor jeder Veränderung zu bewahren: "Wir sind verantwortlich für das, was wir tun", schrieb Voltaire, "aber auch für das, was wir nicht tun." Nun - im Nichtstun ist die schwarz-gelbe Koalition Meister. Wüsste wir es mit Voltaire nicht besser, hätte die Merkel-Truppe sich nur deshalb nichts vorwerfen, weil man dem Nichts nichts vorwerfen kann. Beispiel Veggie-Day. Niemals kämen die Schwarz-Gelben auf die Idee, die unbändige Freiheitsliebe des bundesdeutschen Nine-to-Five-Angestellten mit dem Aufruf zum Verzehr eines Grünkern-Burgers auf die Probe zu stellen. Bevormundung! Gängelei! Angriff auf die Freiheit! Statt dessen wünschen sich die schwarz-gelben Freiheitskämpfer Menschen, die kräftig "Mahlzeit!" zur halbstündigen Mittagspause rülpsen und abends ihre Vorgärten wässern, die sich übern Gartenzaun hinweg über Markus Lanz bei "Wetten dass?" unterhalten und sich im Übrigen ins Fäustchen lachen, wenn ein Fernsehteam demnächst Jürgen Trittin an der Grillhähnchen-Bude erwischt. Haha, wie witzig!