Tauchsieder

Gerechte Freiheit - Ideal oder Oxymoron?

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"Prinzip der Nichteinmischung"

Die Vorzüge von Pettits Konzept liegen auf der Hand. Seine Gerechtigkeit ist minimalistisch und gehaltvoll zugleich: Sie pocht nicht auf Verteilung, „distributive Gerechtigkeit“ und materielle Gleichheit (John Rawls), sondern auf eine viel tiefer liegende, substanzielle, „politische“ Gleichheit in herrschaftsfreien Beziehungen. Zugleich nimmt Pettits Freiheit Maß an den Schwächeren und räumt damit unsinnige libertäre Positionen ab: Seine wirtschaftliche Freiheit würde (auch) nach der Freiheit der Produzenten auf Kaffee-Plantagen und der Fabrikarbeiter in Bangladesch fragen. Und Steuern dürften für Pettit allein deshalb ein Segen sein, weil sie Reichen wie Armen Gnadenverhältnisse ersparen.

Mit Blick auf die internationalen Beziehungen wiederum ist die republikanische Philosophie der Freiheit allein deshalb wertvoll, weil sie das seit dem Westfälischen Frieden (1648) populäre „Prinzip der Nichteinmischung“ (China) unterläuft: Souverän ist (nur), wer seine Bürger als Souverän behandelt. Schließlich darf Pettit mit gutem Recht behaupten, dass sein moralisch anspruchsvolles Doppelideal der Nichtbeherrschung und des Schutzes vor Beherrschung einen sich positiv selbst verstärkenden Prozess initiieren kann - ein Gedanke, der bereits in den antikischen Tugendlehren virulent ist: „Gewährt die Gesellschaft Nora… einen verbesserten Schutz, werden die Maßstäbe für das, was als ausreichender Schutz angesehen wird, als Folge davon wahrscheinlich angehoben“, so Pettit: „Das Ideal ist von sich aus dynamisch.“

Doch was schlägt Pettit, der Anfang des 21. Jahrhunderts zu den Beratern des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero gehörte, konkret vor? Er prangert „die jüngste Entstehung einer megareichen Elite“ an, mit der „Macht, Besteuerung zu vermeiden, die Regierung zu beeinflussen und Oligarchien hervorzubringen“, er geißelt die private Finanzierung von Wahlkampagnen, die Macht von Konzernen, Lobbyisten und die Dominanz offen parteiischer Medienorganisationen. Er lobt die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen und setzt sich für globale Regelungen ein, die auf das Wohlergehen der Bevölkerungen und darauf abzielen, sie vor der Dominanz partikularer Interessen (etwa von Konzernen) zu schützen.

Zum Buch

Manche seiner Vorschläge illustrieren das republikanische Ideal der Machtvermeidung einleuchtend, andere zielen vor allem auf die USA (gesetzliche Krankenversicherung, Fox-News, Strafrechtsreform) und sind mit Blick auf Deutschland und Europa irrelevant. Wieder andere (Kündigungsschutz, Unterstützung der Gewerkschaften) irritieren auch deshalb, weil Pettit nicht mal auf die Idee kommt, auch bei organisierten Vertretung von Arbeitnehmerinteressen könnte es sich um Partikularinteressen handeln. Umgekehrt ist die Expertise von Unternehmen in einer „komplexen Welt“ für Pettit nie Expertise, sondern Maskerade, um „finanzielle Drohungen, gefälschte Analysen, schamlose Desinformation, herbeigeredete Hysterie“ in Umlauf zu bringen: „Diese Gruppen sind Feinde der Demokratie und können nur in Schach gehalten werden, wenn sie an jeder Front durch Aktivisten und Organisationen, die sich im öffentlichen Interesse engagieren, bekämpft werden.“

Merkwürdig. Ausgerechnet ein Buch, das sich 246 Seiten als Stichwortgeber für eine „normative Theorie der Gerechtigkeit“ versteht (und leider sterbenslangweilig geschrieben ist), ruft zwei Seiten vor Toresschluss dazu auf, „das Feuer demokratischer Auseinandersetzung zu nähren“ - und kippt ins hochdramatische Fach. Ob es dem Autor selbst am Ende des Vernünftelns einfach zu viel wurde? Muss, wer Macht begrenzen will, sich tatsächlich so sehr in Zucht nehmen, wie Pettit es verlangt: politisch hellwach, immer auf der Hut, stets das bedenkend, das von allgemeinem Interesse ist? Pettit zufolge darf man nicht mal aus persönlichen Gründen gegen Stromtrassen vor der Haustür sein. Sei nicht egoistisch! Bitte abstrahieren!

Jaja, alles richtig, schon wahr, schon wahr. Aber die Stromtrasse stört halt trotzdem, verdammt - und warum, bitte schön, sollte ich nicht auch mal aus schlechten demokratischen Gründen zornig sein? Und so legt man das Buch am Ende weiter hinten ins Regal, zuckt die Schultern und will anschließend nur noch eins: Spätburgunder schlürfen, Gruyere knabbern, Mozart hören und mächtig viel an sich selbst denken. An sich selbst - und niemanden sonst.

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