Tauchsieder

Der Höhenflug der Grünen liegt nicht nur am Versagen der anderen

Seite 2/2

Repolitisierung der Gesellschaft

Tatsächlich ist es nämlich so: Die Grünen und ihre politischen NGO-Ableger (Attac, Greenpeace) haben schon vor 20, 30 Jahren vor dem Klimawandel, dem Finanzkapitalismus und dem Autowahnsinn gewarnt – nicht sie also, sondern die wirtschaftsliberalen Eliten litten jahrzehntelang unter „platonischen Fehlschlüssen“ und kognitiven Verzerrungen – unter der Vorstellung, die Welt sei voller weißer Schwäne (Nassim Nicholas Taleb). An die Kraft von „Selbstverpflichtungen der Wirtschaft“ jedenfalls glaubt nach Hunderten von Deutschbank-Prozessen und endemischem Volkswagen-Betrug niemand mehr, im Gegenteil: Die beiden Konzerne dürfen froh sein, dass so viele deutsche Kunden ihnen überhaupt noch die Treue halten.

Hinzu kommt: In einer Welt, die die Deutschen seit zehn Jahren als krisenhaft erfahren, als schwer verstehbar (Banken- und Eurokrise), als unübersichtlich (Syrien-Konflikt) und auf entfernte Weise riskant (Klimawandel) – ohne zugleich persönlich von der Krisenhaftigkeit der Welt direkt betroffen zu sein –, wächst das Bedürfnis nach einer normativen Idee, die, wenn nicht Heilung, so doch Orientierung verspricht.

Politik bekommt wieder eine politische Dimension. Die AfD schöpft die Repolitisierung der Gesellschaft auf ihre Weise ab. Doch auch die (meisten) anderen Deutschen, die den Glauben an völkische Lösungen verloren haben, die gegen Hetze und Nationalheilslehren immun sind, wollen wieder auf Ziele hinarbeiten: Ihnen darf und muss Politik Sinnangebote unterbreiten, Horizonte weiten, Dimensionen eröffnen. Sie schätzen Politiker, die aus guten Gründen Ziele verfolgen, bevor uns die Probleme einholen.

„Das Wahlergebnis hat Bayern jetzt schon verändert“
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Quelle: REUTERS
Das Landtagswahlergebnis hat Bayern „jetzt schon verändert“, sagt Grünen-Spitzenkandidatin Katharina Schulze Quelle: dpa
Der Spitzenkandidat der Freien Wähler, Hubert Aiwanger Quelle: REUTERS
Die bayerische SPD-Spitzenkandidatin Natascha Kohnen Quelle: REUTERS
Bundesgeschäftsführer der Grünen, Michael Kellner Quelle: REUTERS
Ex-CSU-Chef Erwin Huber Quelle: dpa
CSU-Parteichef Horst Seehofer Quelle: dpa

Die Grünen bieten den Deutschen eben das: Sie schicken Politiker in die Wahl- und Talkshow-Arenen, die einerseits die Begrenztheit ihres politischen Handelns offen anerkennen, die aber andererseits ihr Programm mit einem „Surplus“ der Moral, der Wertegebundenheit und der Redlichkeit anreichern. Anders als viele Politiker in Union und FDP sind sie paradoxerweise in all ihren Zweifeln zutiefst überzeugt von dem, was sie tun. Dadurch wirken sie nicht nur sympathisch, sondern auch souverän.

Der vielleicht wichtigste Grund für den Höhenflug der Grünen aber liegt in der gegenwärtigen Krise des klassischen Liberalismus – und in einer FDP, deren Selbstbezeichnung als „Freiheitspartei“ heute nicht mehr verlockend, sondern teils bedrohlich klingt: als Freiheit, die sich Banker und Silicon-Valley-Libertäre, Superreiche und Steuerhinterzieher, Konzernmanager und SUV-Fahrer herausnehmen auf Kosten ehrlicher Steuerzahler.

Realo-Parteichef Christian Lindner hat es aus Rücksicht auf die leichtliberalen Fundis nicht geschafft, der FDP ein ordnungspolitisches Antlitz zu verpassen. Die Lindner-Liberalen wollten „nicht pro Business, sondern pro Markt“ sein, nicht nur „nach der Freiheit der Unternehmer“ fragen, „sondern auch nach der Freiheit der Bürger und Konsumenten“. Sie versprachen: „Chancen für jeden heißt Fortschritt für alle“. Am Ende des Tages aber dominieren in den Sozialen Medien dann doch Liberale, die sich von Friedrich August von Hayek ihre Schmähreden gegen den Sozialstaat soufflieren lassen und sich über linksgrüne Ideologen mokieren.  

Während die Grünen ideologisch abgerüstet haben, stehen die Liberalen noch immer in Waffen – auf dem Feld der religiösen Staats- und Regulierungsfeindschaft. Das ist nach allem, was passiert ist, nicht nur absurd, sondern vor allem selbstblind. Gewiss: Der Liberalismus ist die politische Ideologie der Ideologiefreiheit. Zu seinen größten Leistungen gehört seit dem 18. Jahrhundert die ethische Säuberung der Staatstheorie. Danach widersteht ein guter Staat der Versuchung, seinen Mitgliedern, die ihn bilden, eine bestimmte Auffassung vom Leben zu diktieren. Anders gesagt: Der liberale Staat ist ein Rechtsstaat, nichts weiter, moralisch blind wie Justitia. Er ist ein Staat, der nicht denkt.

Alles, was Sie zum Ergebnis der Wahl wissen müssen

Was die FDP allerdings nicht versteht: Der Liberalismus ist damit auch blind für seinen eigenen Dogmatismus, dafür, dass ausgerechnet seine moralische Neutralität – die Auffassung, die Welt vor allen ideologischen Teufeleien beschützen zu müssen – eine doktrinäre Kehrseite hat: Er prämiert Rechtgläubige und (Selbst-)Erwählte, die von der Kanzel des eingebildeten Freigeistes herab wider die Übergriffigkeit von „Gleichmachern“ und „Gutmenschen“ agitieren, wider die „Bürokratie“ und „Sozialgesetzgebung“, wider die „Technikfeindlichkeit der Deutschen“ und überhaupt wider alle, denen es an der Reife mangelt, mutig ihre Freiheit zu ergreifen. 

Es stimmt schon: Die meisten Deutschen mögen keine Fundis und Ideologen. Eben drum steigen die Grünen zur zweitstärksten Kraft in Bayern auf, vor SPD, AfD und Linken – und natürlich auch den Liberalen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%