Tauchsieder

Die sechs Sackgassen der SPD

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Selbst mit Olaf Scholz ist nichts gewonnen für die SPD

4. Mit Olaf Scholz die Mitte bewirtschaften?

Dabei hat ironischerweise Margaret Thatcher der Sozialdemokratie bereits in den Achtzigerjahren einen „Dritten Weg“ aus der programmatischen Sackgasse gewiesen: Die liberalkonservative britische Premierministerin animierte über Tony Blairs „New Labour“ auch die Schröder-SPD zu einem Update ihres Fortschrittsbegriffs. Ziel war eine Balance zwischen bastardliberaler Marktverheiligung und ordnungspolitischer Wirtschaftssteuerung, forderndem Leistungsdenken und fördernden Hilfen des Sozialstaates.

Das Problem: Schröder passte die Sozialdemokratie nicht (nur) den veränderten Bedingungen an, sondern lieferte sie (auch) einer „alternativlosen“ Globalisierung aus. Er ließ den neuen deutschen Arbeiter als Dienstleistungsproletarier links liegen und rollte den Geldinteressen einen roten Steuersenkungsteppich aus. Als dann die Finanzkrise hereinbrach, hatten sich die Marktgläubigen in Union und FDP bloß geirrt – die  SPD aber hatte ihre Seele verkauft.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma kann es für die SPD heute nur geben, wenn sie sich den Wählern erneut als bessere Union empfiehlt, wenn sie aufhört, immer neue Opfergruppen zu erfinden, um sie als Ziel ihrer politischen Zuwendung zu bewirtschaften und sich stattdessen allen Deutschen andient – etwa mit einem Programm für eine „solidarische Leistungsgesellschaft“, die schon Alt-Vordenker Erhard Eppler im Sinn hatte. Dabei müsste die SPD beide Pole des Begriffs unter Starkstrom setzen - und aus der daraus entstehenden Spannung einen neuen, ambitionierten Fortschrittsbegriff gewinnen: einerseits aus scharfer Kritik an der überragenden Bedeutung von Kapitalinteressen, an Machtkonzentration und sozialer Ungleichheit – andererseits aus scharfer Kritik am anspruchslosen Anspruchsdenken derer, die die „Stallfütterung des Staates“ (Wilhelm Röpke) mit intelligenter Wirtschafts- und Sozialpolitik verwechseln.

Mit der Kür von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten hat sich sich die SPD wieder als „bürgerliche“ Partei positioniert, die einer „guten Gesellschaft“ der Tüchtigen das Wort reden könnte. Allerdings behindern vor allem Fraktion und Parteiführung die inhaltliche Reorganisation der SPD - mit der Folge, dass die Partei „in allen politischen Krisen des letzten Jahrzehnts Angst“ hatte, „Stellung zu beziehen“, und sich statt dessen darum bemühte, die Krisen „durch Staatsleistungen abzufedern“, schreibt der Staatsrechtler Christoph Möllers in einem Essay für den „Merkur“.

Die SPD, so Möllers' Diagnose, falle zwar als „Agentin“ eines bedeutsamen Sozialingenieurwesens auf, aber als ordnungspolitische Partei aus: Sie sei in der Europa-, Migrations- und Coronakrise allenfalls als Zaungast und „politisches Neutrum“ in Erscheinung getreten, als Geldverteilungsagentur, nicht als politischer Akteur, der „zu Fragen politischer Identität und Freiheitsverteilung“ etwas Nennenswertes beizutragen hätte.

5. Eine politische Partei für die Mitglieder

Selbst mit Olaf Scholz ist daher nichts gewonnen für die SPD. Er wird, anders als Schmidt und Schröder, nicht nur nicht getragen von der Fraktion und der Parteiführung; das ließe sich verschmerzen. Sondern er weiß als Kanzlerkandidat auch nicht 35 Prozent der Deutschen gegen eine SPD zu mobilisieren, deren Funktionäre mit gesinnungsethischer Reinheit sich selbst und ihren Mitgliedern zu Gefallen sein wollen - jedenfalls nicht den Wählern.

Die SPD-Fraktion hat, auch das schreibt Möllers richtig, im Juni 2019 „ihre eigene Integrationsfunktion“ aufgegeben, als sie Andrea Nahles stürzte und sich „auf die Seite einer gegenüber der Großen Koalition kritischen Mitgliedschaft schlug“. Und die Fraktion hat seither keine Gelegenheit ausgelassen, die Rolle des Kanzlerkandidaten Scholz zu konterkarieren: Die Abwahl des „realpolitischen“ Wehrbeauftragten; die Nachfolge des verstorbenen Bundestagsvizepräsidenten Thomas Oppermann; der Rückzug des verteidigungspolitischen Sprechers Fritz Felgentreu - in allen drei Fällen zerstritt sich die Fraktion nicht nur über knappe Posten, sondern nahm auch inhaltlich Kurs auf Opposition.

Der Politikwissenschaftler Philip Manow hat vor eine paar Monaten sehr schön dargelegt, dass es sich bei der „Krise der Demokratie“ vor allem um eine Krise demokratischer Repräsentation handelt. Und dass im Mittelpunkt dieser Krise die politische Partei steht, die sich „angesichts auflösender Milieus und eines immer volatileren Elektorats“ weniger um „die Maximierung der Wahrscheinlichkeit des Wahlerfolgs“, vielmehr um die „Minimierung der Folgen möglicher Wahlniederlagen“ sorgt. Dadurch entstehe ein Klima des Verdachts, nicht etwa zwischen, sondern vor allem innerhalb der Parteien.

Koalitionsverhandlungen etwa, so Manow im Anschluss an den Rechtswissenschaftler Florian Meinel, würden nicht deshalb immer langwieriger, weil sich die „Partner auf Zeit“ misstrauten, sondern weil die Basis der jeweiligen Partner „diese Verhandlungen… als fast einzige Gelegenheit“ wahrnehmen, das Handeln ihrer Führungen „den in nächsten… Jahren wenigstens im Ansatz zu steuern“. Daher also die Abstimmungen der Mitglieder über die Koalitionsverträge. Daher die „Halbzeitbilanz“. Daher die „Regionalkonferenzen“ und „Mitgliederbefragungen“.

Vor allem in der SPD ist die „Mobilisierung der Basis“ mittlerweile zu einem sehr kostspieligen und beliebten Mittel avanciert, um die Parteiführung herauszufordern (und zu schwächen): „ein Mittel des Konflikts, vorgebracht von Beteiligten im Konflikt“, so Manow - mit der Folge, dass die Führungsauslese der Partei sich nicht mehr „an der Gesamtwählerschaft, sondern zunächst nur an der Mehrheitsfähigkeit innerhalb der Partei orientiert“. Und das bedeutet, nur leicht zugespitzt: Die Demokratisierung des Wahlverfahrens in der Regierungspartei SPD stärkt die Partei als Kraft der Opposition - und schwächt sie als Adresse der politischer Selbstverständigung aller Deutschen und als Akteur im demokratischen Gesamtgefüge des Landes.

6. Ein Klima des Misstrauens und eine verkitschte Außenpolitik

Als Primärziel des institutionalisierten Misstrauens bietet sich der SPD in den nächsten Monaten ausgerechnet Olaf Scholz an. Der Finanzminister ist für die Bankenaufsicht Bafin zuständig, die in der Wirecard-Affäre lieber Journalisten verfolgte als ihren Kontrollpflichten nachzukommen. In seiner Zeit als Erster Bürgermeister hat die Stadt Hamburg auf eine Steuernachforderung gegenüber der in Cum-Ex-Geschäfte verwickelten Privatbank MM Warburg in Höhe von 47 Millionen Euro verzichtet. Und in einem Brief an den US-Finanzminister Steven Mnuchin hat Vizekanzler Scholz am 5. August 2020 im Namen der Bundesregierung der Trump-Administration angeboten, „to massively increase its public support“ für den Bau von LNG-Gas-Terminals, sollten sich die USA doch noch davon abbringen lassen, wegen der deutsch-russischen Gaspipeline NordStream2 Sanktionen zu verhängen: Big-Buddy-Politik eines Dealmakers im Wert von Milliarde Euro - man kann sich kaum ausmalen, wie sympathisch sie das im Willy-Brandt-Haus finden.

Umgekehrt belastet eine abwechselnd verkitschte und peinlich lobbyistische Russland-, Außen- und Sicherheitspolitik prominenter SPD-Politiker die Ambitionen Scholz’ inzwischen schwer. Für die Parteilinke Hilde Mattheis etwa ist klar: Schon Willy Brandt habe gewusst, dass Aufrüstung „früher oder später im tödlichen Desaster“ endet - ein, man kann es nicht anders sagen, geradezu kleinkindlich blöder Tweet, den der der SPD-Verteidigungsexperte Felgentreu nur noch sarkastisch kontern konnte: „Willy saß auf einem Sack voller Waffen, wenn er mit Breschnjew sprach.“ Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken lehnt das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben mit dem absurden Hinweis auf einen erneuten Sonderwegswillen Deutschlands in Europa ab: „Deutschland will zu alter militärischer Stärke zurückfinden? Lieber nicht.“ Und der Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich, der die SPD als „Friedenspartei“ zu positionieren gedenkt, will im Wahlkampf US-Atomwaffen auf deutschem Boden thematisieren anstatt die transatlantischen Beziehungen zu reparieren - als gebe es nicht andere außenpolitische Baustellen, vor allem mit Blick auf Wladimir Putin.

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Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig gründet derweil eine landeseigene „Fake-Stiftung“, so FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff, um die deutsch-russische Gaspipeline fertigzustellen; Gerhard Schröder und Matthias Platzeck lobbyieren unverhohlen für Moskau. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schafft es doch tatsächlich, Nord Stream 2 gedanklich mit der „letzten diplomatischen Brücke“ nach Moskau in Verbindung zu bringen, die auch deshalb wichtig sei, weil „mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion“ dem „Krieg zum Opfer gefallen“ sind. Kurzum: Ein Kanzlerkandidat, der solche Parteifreunde hat, braucht keine Gegner mehr. Der marschiert von Anfang an: schnurstracks auf die Oppositionsbank.

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