Tauchsieder Trauern mit Twitter?

Die 140-Zeichen-Kondolenz ist eine einzige Gedanken- und Taktlosigkeit. Was bringt Menschen dazu, ein eiliges „R.I.P“ hinzudäumeln, wenn Prominente sterben?

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Flüchtlingskrise, Westerwelle und Genscher: Es fehlt die Zeit die Ereignisse angemessen zu händeln und zu würdigen. Quelle: Getty Images

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht in diesen Wochen; mir geht es vor allem zu schnell. Ich halte mit der Welt nicht mehr mit und den Nachrichten, die sie produziert. Die Umlaufgeschwindigkeit des Neuen ist so hoch, das ich mich zugleich überfordert und unterfordert fühle. Die Welt rauscht durch mich hindurch wie Wasser in einem Durchlauferhitzer. Ich fühle mich wie ein endlos lange Papierrolle in der Druckerpresse, der eine rasende Welt laufend neue Zeugnisse ihres permanenten Vollzugs aufdrückt…, aber nein, das klingt zu altmodisch, sagen wir besser: Mein Gehirn ist zu einer Art Newsticker degeneriert - es verdoppelt augenblicklich das, wovon es in Kenntnis gesetzt wird, während es die Fähigkeit zur Distanznahme beinahe komplett verloren hat, die Fähigkeit zum Innehalten, zur Reflexion, zum Nach-Denken. Kurz: Ich bin ganz Arbeitsspeicher ohne Festplatte.

Das Problematische an diesem Befund ist, dass mich diese schrille, bunte, laute, schnelle Welt weder intellektuell zu sättigen noch hungrig zu machen versteht. Sie macht mich nur noch nervös und unzufrieden - und manchmal auch leer, weil ich das Gefühl habe, ihr nicht mehr genügen, ihr nicht mal mehr ansatzweise gerecht werden zu können. Natürlich kenne ich den klassischen Befund der Soziologie: Die schiere Vielfalt der Optionen nährt bei uns wohlversorgten Einwohnern atlantischer Komfortzonen das sehrende Gefühl der Unzufriedenheit, weil wir mit jeder Chance, die wir ergreifen, hundert andere liegen lassen (müssen) - Chancen, die dann andere ergreifen, die auf den Arbeits-, Heirats-, Kultur-, Freizeit- und Wohnungsmärkten womöglich erfolgreicher sind als wir - und damit unsere Unruhe und Unzufriedenheit steigern. Aber das ist es nicht. Ich bin seit meinen Zwanzigern ein mir angenehm neidfreier Mensch, habe stets reichlich Genügen am Verfolgen, zuweilen auch Gelingen dessen gefunden, was mir wichtig war. Und heute? Nun, heute weiß ich zwar noch immer, den Bereich des mir Wichtigen zu markieren. Aber es kostet mich zunehmend viel Anstrengung, mich auf das Wichtige zu konzentrieren, es zu verteidigen gegen die Totalität der Gegenwart. Bildlich gesprochen könnte man sagen, dass die Brandung des Immer-Neuen an der Insel des Immer-Gültigen nagt.

Zahlen und Fakten zu Twitter

Sie verstehen, was ich meine? Nehmen wir zum Beispiel die prominenten Toten der vergangenen Wochen. Kriegen Sie sie noch halbwegs zusammen? Hans-Dietrich Genscher, Guido Westerwelle, Lothar Späth und Helmut Schmidt; Zaha Hadid, Imre Kertesz, Roger Cicero und Johan Cruyff; Hugo Strasser, Nancy Reagan, Nikolaus Harnoncourt und Hannes Löhr; Peter Lustig, Umberto Eco, David Bowie und Roger Willemsen; Artur Fischer, Paul Bley, Maja Maranow und Pierre Boulez… - ich wette, Sie hatten (wie ich) mindestens die Hälfte nicht mehr auf dem Zettel. Der Grund dafür ist nicht, dass uns keine Zeit mehr verstattet wäre, sich mit dem Leben und der Bedeutung der einen oder des anderen auseinanderzusetzen, sondern dass wir nach einem kurzen, schreckhaften „Huch!?“ von einer Todesnachricht zur anderen übergehen, ohne uns für das Leben und die Bedeutung der einen oder anderen Person noch einmal wirklich zu interessieren. Wahrscheinlich ist das kursiv gestellte „Oder“ hier von entscheidender Bedeutung: Die größte Medienkompetenz scheint heute zu haben, wer sich für bestimmte Dinge nicht interessiert, wer zu selektieren, in sich den Strom der Nachrichten zu unterbrechen versteht. Wer eine Zeitung mit einem langen Nachruf und daraufhin noch mal ein Buch zur Hand nimmt, wer stunden-, vielleicht tagelang nach-liest, nach-sieht, nach-hört, was das Erbe von Genscher oder Kertesz oder Boulez oder Hadid sein könnte.

Die beliebtesten Apps in Deutschland
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Die geringste Medienkompetenz wiederum bringen ausgerechnet jene mit, die sich an der Spitze des massenmedialen Fortschritts wähnen. Sie greifen tatsächlich zum Smartphone, um Bestürzung zu twittern und Trauer zu posten, sobald jemand „zu früh“ gestorben, ein Flugzeug abgestürzt oder ein Terroranschlag verübt worden ist. Sind das noch harmlos-wohlmeinende Gesten der vernetzten Hilf- und Sprachlosigkeit? Oder haben wir es schon mit einem Exhibitionismus teilnahmsloser Anteilnahme zu tun? Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass soziale Netzwerke Menschen einander in ihrem Menschsein nicht näher bringen können – der routiniert phrasierte Schreck, das eilig hingedäumelte „R.I.P“, die unfertigen „Gedanken“, die angeblich „bei den Angehörigen“ sind, erbringen ihn Woche für Woche, Tag für Tag. Facebook und Twitter sind Plattformen zur Verbreitung spontanemotionaler Dutzendware, Billigmärkte für den Austausch trivialisierter (Mit-)Gefühle – und damit der exakte Ausdruck dessen, was Menschen zu nichts verbindet. Zwischen der Sekunden-Bestürzung der Netzgemeinde und dem existenziellen Trauerschock der Angehörigen klafft ein absurder Abgrund, der so groß, so unüberbrückbar ist, dass eine 140-Zeichen-Kondolenz notwendig beides ist: eine Gedanken- und eine Taktlosigkeit.

Twittern ist ein erster Schritt

Ob sich beispielsweise FDP-Chef Christian Lindner je gefragt hat, warum er nach dem Tod von Hans-Dietrich Genscher meint twittern zu müssen? Er könnte ja auch einfach die Türe seines Büros schließen, eine Stunde nachdenken, trauern, fluchen, weinen, was weiß ich, seine Frau anrufen, einen Freund, vielleicht was Persönliches notieren. Statt dessen postet Lindner, Genscher habe „Geschichte geschrieben und unser Land geprägt. Wir haben ihm viel zu verdanken“… - je nun: Wer hätte das gedacht? Was und wen will er mit dieser Nullaussage erreichen? Seine Parteifreunde, seine Follower, sich selbst? Auf wessen Resonanz hofft er? Psychologen werden meinen, dass die instantane Reaktion auf eine Nachricht mehr rituelle Schreckbewältigung denn vordergründige Gemütsbewegung ist: Twittern als erster Schritt, das Geschehene zu verstehen - und hinter sich zu lassen. Das Problem scheint mir, dass wir heute so vieles hinter uns lassen, bevor es überhaupt an uns heran gekommen ist. Ist der Verdacht so abwegig, dass auch die Ikonographie der Trauer im Netz nicht etwa ihrer Bewältigung dient, sondern ihrer Abwehr? Die FDP etwa hat wenige Stunden nach Genschers Tod einen stilisierten schwarzen Pullover mit weißem Hemdkragen und Krawatte zum Trauer-Logo der Stunde entworfen - wer, um Himmels willen kommt überhaupt auf die Idee im Thomas-Dehler-Haus, ausgerechnet in einem solchen Moment kreativ und witzig sein zu wollen?

Nutzerzahlen der bekanntesten sozialen Medien

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla hat kürzlich in der „FAZ“ angemerkt, dass „Folgenlosigkeit“ eines der „gesellschaftlichen Phänomene ist, mit denen wir uns verstärkt beschäftigen müssen“. Die Ahnung, dass man mit so einigem durchkomme, stelle man es nur geschickt an, so Röggla, verbreite sich auch in Deutschland rasend schnell. Man braucht nur an Rechtsradikale und Salafisten, an Einbrecher und Steuerhinterzieher, an Schwarzarbeiter oder Notenbanker zu denken, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass Röggla richtig liegen könnte. Oder aber man schaut täglich fern, liest Zeitung, twittert, postet, lässt sich tragen vom Strom der Nachrichten und Neuigkeiten, der Kriege und der Kuriosita, der Böhmermann-Videos und Westerwelle-Nachrufe, der geteilten Extra-3-Satiren und gelikten Idomeni-Reportagen: Die Überfülle des täglichen Nebeneinanders begünstigt nicht nur (in individualpsychologischer Hinsicht) Gleich-Gültigkeit, sondern auch (in gesellschaftlicher Hinsicht) Diskursschwäche.

Natürlich ist die mitunter absurde Parallelität und (A-)Synchronität nachrichtlicher Ereignisse von Rang, gesellschaftlichem Klatsch und persönlicher Befindlichkeit kein neues Phänomen. Bekanntlich hat schon Franz Kafka am 2. August 1914 in sein Tagebuch notiert: „Heute hat Deutschland Russland den Krieg erklärt - Nachmittag Schwimmschule“. Was allerdings neu ist, ist die Aufmerksamkeit, die die Belanglosigkeit genießt, die breite Öffentlichkeit der Gleich-Gültigkeit, die Ent-Privatisierung der fühllosen Phrasen - die Zirkulation und Distribution der Gedankenlosigkeit. Es ist kein Zufall, dass Kafka sich seinem Tagebuch anvertraute, während weniger Begabte heute ständig meinen, von ihrer Sprach-, Gedanken- und Gefühlsarmut Zeugnis ablegen zu müssen. Kafka hoffte noch, sich im intimen Selbstgespräch verdächtig zu bleiben. Die instantan hinaus posaunten Gedankenlosigkeiten der Augenblickserschütterten hingegen bleiben gerade deshalb folgenlos, weil der infantile Trauerstuss darauf hoffen darf, in der breiten Öffentlichkeit einer ständig präsenten, ständig erneuerten Gegenwart unterzugehen. Hielte man hingegen tatsächlich einmal kurz inne - könnte einem der Tod dann tatsächlich nahe kommen? Schreckliche Vorstellung!

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