Tauchsieder Trauern mit Twitter?

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Twittern ist ein erster Schritt

Ob sich beispielsweise FDP-Chef Christian Lindner je gefragt hat, warum er nach dem Tod von Hans-Dietrich Genscher meint twittern zu müssen? Er könnte ja auch einfach die Türe seines Büros schließen, eine Stunde nachdenken, trauern, fluchen, weinen, was weiß ich, seine Frau anrufen, einen Freund, vielleicht was Persönliches notieren. Statt dessen postet Lindner, Genscher habe „Geschichte geschrieben und unser Land geprägt. Wir haben ihm viel zu verdanken“… - je nun: Wer hätte das gedacht? Was und wen will er mit dieser Nullaussage erreichen? Seine Parteifreunde, seine Follower, sich selbst? Auf wessen Resonanz hofft er? Psychologen werden meinen, dass die instantane Reaktion auf eine Nachricht mehr rituelle Schreckbewältigung denn vordergründige Gemütsbewegung ist: Twittern als erster Schritt, das Geschehene zu verstehen - und hinter sich zu lassen. Das Problem scheint mir, dass wir heute so vieles hinter uns lassen, bevor es überhaupt an uns heran gekommen ist. Ist der Verdacht so abwegig, dass auch die Ikonographie der Trauer im Netz nicht etwa ihrer Bewältigung dient, sondern ihrer Abwehr? Die FDP etwa hat wenige Stunden nach Genschers Tod einen stilisierten schwarzen Pullover mit weißem Hemdkragen und Krawatte zum Trauer-Logo der Stunde entworfen - wer, um Himmels willen kommt überhaupt auf die Idee im Thomas-Dehler-Haus, ausgerechnet in einem solchen Moment kreativ und witzig sein zu wollen?

Nutzerzahlen der bekanntesten sozialen Medien

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla hat kürzlich in der „FAZ“ angemerkt, dass „Folgenlosigkeit“ eines der „gesellschaftlichen Phänomene ist, mit denen wir uns verstärkt beschäftigen müssen“. Die Ahnung, dass man mit so einigem durchkomme, stelle man es nur geschickt an, so Röggla, verbreite sich auch in Deutschland rasend schnell. Man braucht nur an Rechtsradikale und Salafisten, an Einbrecher und Steuerhinterzieher, an Schwarzarbeiter oder Notenbanker zu denken, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass Röggla richtig liegen könnte. Oder aber man schaut täglich fern, liest Zeitung, twittert, postet, lässt sich tragen vom Strom der Nachrichten und Neuigkeiten, der Kriege und der Kuriosita, der Böhmermann-Videos und Westerwelle-Nachrufe, der geteilten Extra-3-Satiren und gelikten Idomeni-Reportagen: Die Überfülle des täglichen Nebeneinanders begünstigt nicht nur (in individualpsychologischer Hinsicht) Gleich-Gültigkeit, sondern auch (in gesellschaftlicher Hinsicht) Diskursschwäche.

Natürlich ist die mitunter absurde Parallelität und (A-)Synchronität nachrichtlicher Ereignisse von Rang, gesellschaftlichem Klatsch und persönlicher Befindlichkeit kein neues Phänomen. Bekanntlich hat schon Franz Kafka am 2. August 1914 in sein Tagebuch notiert: „Heute hat Deutschland Russland den Krieg erklärt - Nachmittag Schwimmschule“. Was allerdings neu ist, ist die Aufmerksamkeit, die die Belanglosigkeit genießt, die breite Öffentlichkeit der Gleich-Gültigkeit, die Ent-Privatisierung der fühllosen Phrasen - die Zirkulation und Distribution der Gedankenlosigkeit. Es ist kein Zufall, dass Kafka sich seinem Tagebuch anvertraute, während weniger Begabte heute ständig meinen, von ihrer Sprach-, Gedanken- und Gefühlsarmut Zeugnis ablegen zu müssen. Kafka hoffte noch, sich im intimen Selbstgespräch verdächtig zu bleiben. Die instantan hinaus posaunten Gedankenlosigkeiten der Augenblickserschütterten hingegen bleiben gerade deshalb folgenlos, weil der infantile Trauerstuss darauf hoffen darf, in der breiten Öffentlichkeit einer ständig präsenten, ständig erneuerten Gegenwart unterzugehen. Hielte man hingegen tatsächlich einmal kurz inne - könnte einem der Tod dann tatsächlich nahe kommen? Schreckliche Vorstellung!

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