Tauchsieder
Friedrich Merz hat eine definitive Festlegung in der Öffentlichkeit vermieden, aus seinem engsten Umfeld heißt es aber, er sei zu einer Kandidatur entschlossen. Quelle: dpa

Und Merz richtet es jetzt?

Die CDU braucht keinen Anti-Merkel-Kurs. Sie muss nur wieder lernen, „die Mitte“ als politische Leerstelle zu füllen. Klingt paradox? Ist es auch. Kleine Handreichung für eine moderne Volkspartei.

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Die Union stellt den nächsten Bundeskanzler. Um das zu wissen, braucht es anno 2020 nicht mal mehr einen vergleichenden Blick auf das (dürftige) Angebot der politischen Konkurrenz. Angela Merkel hat die Union als Paradox einer parteilosen Partei positioniert, das ist ihr Erbe und Vermächtnis: als zunehmend schwach erstarkenden Hegemon, als Gravitationszentrum der Macht ohne programmatische Anziehungskraft – als singulären Politikanbieter ohne politisches Angebot. Das Alleinstellungsmerkmal der Merkel-CDU ist die Abwesenheit eines Gestaltungsanspruchs. Linke, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale und Rechtsnationale – sie alle wollen auf ihre Weise das Land verändern, es sozialisieren, therapieren, klimaneutralisieren, ertüchtigen oder zugrunde richten. Allein die Merkel-Union will bloß eine Begleitagentur des sich zeitlich Vollziehenden sein. Und mit dem Land alt und grau werden.

Die Union stellt den nächsten Bundeskanzler. Um das zu wissen, reicht ein Blick auf die animierte Bevölkerungspyramide des Statistischen Bundesamtes und auf die nach Altersgruppen aufgeschlüsselten Wahlergebnisse der vergangenen Jahre. Wir sehen: Der relativ größte Anteil der Bevölkerung in Deutschland verlagert sich bis 2040 von den 45- bis 55-Jährigen in Richtung der 65- bis 75-Jährigen. Und wir sehen außerdem: Bei der Bundestagswahl 2017 stimmte fast jeder zweite Ü-70-Wähler für die Union, bei der Landtagswahl in Hessen im Oktober 2018 waren es 42 Prozent, bei der Europawahl 2019 erneut 47 Prozent. Das heißt, ganz ohne Ironie: Die Union verdankt ihre hegemoniale Stellung nicht zuletzt der Transformation Deutschlands von einer zukunftsoffenen Industrienation in eine besitzstandskonservierende Rentnerrepublik.

Die Union stellt also den nächsten Bundeskanzler – aber wer wird es sein? Wenn ihr die singuläre Stellung in der deutschen Parteienlandschaft demografisch in den Schoß fällt, heißt das im Umkehrschluss: Nur die CDU selbst steht ihrem eigenen Erfolg im Wege. Aber warum? Die schleichende, sich seit drei Jahren zuspitzende Identitätskrise der Merkel-Partei hat nur oberflächlich mit Euro- und Migrationsfragen zu tun, auch nicht mit dem „konservativen“ Kern, den die Bundeskanzlerin mit ihrer entschieden unentschiedenen Politik angeblich verraten hat. Was stattdessen abhandenkam, ist das Vertrauen der Bürger in die Union als Partei der gelingenden „Hintergrunderfüllung“. Als Vorsitzende(r) einer solchen Kanzlerpartei muss man nicht zwingend alle anfallenden Probleme lösen. Wohl aber laufend annoncieren, dass man alle anfallenden Probleme nach bestem Wissen und Gewissen bewirtschaftet. Der Unterschied ist keine Kleinigkeit. Merkel war in den ersten Jahren als „postheroische“ Kanzlerin erfolgreich, weil sie nicht die Alleswisserin mimte – die Magierin, die Gordische Knoten durchtrennen kann. Und sie agiert glücklos, seit sie nicht mehr das Tagesgeschehen abmoderiert, sondern seit nachrichtengetriebene „Alternativlosigkeiten“ im Kanzleramt die Regierungsgeschäfte führen.

Es ist bekannt, dass Merkel nie viel mehr als das tagespolitisch Anfallende gewissenhaft erledigt, die Newsoberfläche stets sorgsam poliert hat. Sie hat keinen Kompass besessen, an dem sie und die Deutschen sich hätten orientieren können. Keinen Sensor für die gefährlichen Unterströmungen in diesem Land. Keinen Ehrgeiz, dem Kontinent in seinen multiplen Existenz- und Orientierungskrisen die Richtung zu weisen. Und schon gar keinen Sinn für demokratischen Streit. Dass Merkel glaubte, die AfD durch demonstrative Nichtbeachtung wieder aus der Welt schaffen zu können, dass sie den Luckes und Petrys und Gaulands und Höckes gegenüber wie ein Kind agierte, das die Augen schließt und darauf hofft, die Gefahr möge bitte vorüberziehen – das war ein schweres Versäumnis.

Merkel hat gewiss gespürt, dass was faulte im Staate Deutschland, dass seine Fundamente angegriffen wurden. Aber sie stieg weder in den Keller herab, um es zu richten, noch ließ sie die Deutschen spüren, dass sie spürt, dass etwas nicht stimmt. Wenn Friedrich Merz heute insinuiert, mit ihm, dem selbstüberzeugten Goldstandard christdemokratischer Wirtschafts- und Finanzpolitik, und Wolfgang Bosbach, dem populären Kritiker des vorübergehenden Kontrollverlustes in der Flüchtlingspolitik, im Kabinett wäre der Aufstieg der AfD zu vermeiden gewesen, so kündet das einerseits von der Hybris eines Eckenstehers ohne politische Verantwortung. Andererseits weist Merz zu Recht auf einen wunden Punkt der Merkel-CDU hin: Als sichtbare, nicht marginalisierte Protagonisten einer Partei, die die anfallenden Probleme strittig und alternativ bewirtschaftet, hätten er und Bosbach (und andere) durchaus vermeiden können, dass mit der Eurorettungs- und Flüchtlingspolitik „das Bürgerliche“ in Richtung AfD entgleist.

Kurzum: Die CDU muss wieder die Partei werden, die dafür sorgt, dass die Deutschen sich nicht allzu viel sorgen. Sie muss, als paradoxe Partei der Parteilosigkeit, den paradoxen Wunsch der (meisten) Deutschen erfüllen, dass sich bei allen Veränderungen nicht allzu viel ändert. Ihre Wähler erwarten, dass die CDU die Ärgernisse der Welt auszäunt aus ihren Vorgärten. Dass sie ihnen Bedrängendes und Kriminelles vom Leib hält, dass sie dem Störenden und Fremden nicht zu viel Raum gibt, dass sie dem Bleibenden und Traditionellen einen Stellenwert einräumt – damit sie selbst, die Bürger, brav und rechtschaffen, ihrer Arbeit, ihren Ehrenämtern, ihren Hobbies nachgehen können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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