Tauchsieder

Und täglich grüßt die Murmel-Merkel

Acht Wochen noch bis zur Bundestagswahl, dann wird sich alles zum Alten ändern - und die schwarz-gelbe Dilettantentruppe regiert weiter. Warum bloß?

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Angela Merkel Quelle: REUTERS

Am vergangenen Wochenende war ich im Rheinland. Ich saß im Garten eines lieben Freundes, wir tranken Kaffee und Wasser, aßen Streuselkuchen, gingen mit dem Hund im Wald spazieren. Wir kehrten zurück, die Frau meines Freundes gesellte sich zu uns, auch die bald 18-jährige Tochter, die vor ein paar Wochen reichlich glänzend ihr Abitur gemeistert hat. Die Sonne schien hochsommerlich heiß, ein Rettungsschirm spendete großzügig Schatten, kein Wetter für präzise Gedanken.

Wir sprachen über dies und das, über eine Ausstellung von Martin Kippenberger und Integrationsschulen, über die Vorzüge südländischer Reiseziele und irgendwann auch über Politik: über die Eurokrise, klar, über PRISM, Snowden, Google, NSA, die Steuerpläne der SPD und den Soli.

Ein paar Minuten später war mir klar, dass die Bundestagswahl gelaufen ist. Es ist fürchterlich, aber nicht mehr zu ändern: Acht Wochen noch, dann wird sich alles zum Alten ändern - und die schwarz-gelbe Dilettantentruppe regiert weiter.

Dafür gibt es vor allem drei Gründe: Es sind wir, die Medien. Es ist sie, Angela Merkel (CDU). Und es sind vor allem die allermeisten, also die selbstzufrieden Eingelullten und ichzentriert Unpolitischen.

Fangen wir, allgemeinen Üblichkeiten folgend, mit Punkt eins an, den Medien, so richten wir den Zeigefinger auf eine, nun ja: ziemlich sieche Branche, in der lauter Menschen beschäftigt sind, die traditionell fürs Lesen, Beobachten, Nachdenken und Aufschreiben bezahlt werden. Wobei auffällig ist, dass drei der vier genannten journalistischen Tätigkeitsfelder (lesen, beobachten, nachdenken) dem dienen, was neudeutsch „Input“ genannt wird – und das vierte Tätigkeitsfeld (aufschreiben) gewissermaßen die öffentlichkeitswirksame, im besten Fall aufklärerische Summe der übrigen drei darstellt, neudeutsch: den „Output“.

Das ist heute anders. Heute müssen Journalisten in Echtzeit um die Wette twittern, bloggen, internetten und facebooken – mit der doppelten Folge, dass sich das Schwergewicht ihrer Arbeit vom „Input“ zum „Output“ verlagert und dass man sich unter Redakteuren heute weniger denn je nachrichtenfilternde Analysten des Weltgeschehens vorzustellen hat – und mehr denn je Tautologen, die das jedermann Ersichtliche gleichsam notariell beurkunden. Soziologisch gesprochen: Die Medien entwickeln sich, begünstigt durch ihre Digitalisierung, zu Begleitagenturen eines Zeitgeschehens, zu dem sie in einem abnehmend reflexiven und einem zunehmend affirmativen Verhältnis stehen.

Im Bereich des politischen Journalismus, hier kommen wir langsam zu Punkt zwei, profitieren davon vor allem die scheinbar Handelnden - weil eine nominell „tätige“ Bundesregierung von den Medien nicht mehr an der Lösung von Problemen gemessen wird, sondern an ihrer ständigen Bearbeitung, die ja zu bezeugen - statt einzuordnen und zu bewerten - sich die Medien zur primären Aufgabe gemacht haben. Klimawandel, Bankenkrise, Euro-Desaster, Griechenland-Rettung – es kommt für Bundeskanzlerin Angela Merkel und auch für die Medien nicht darauf an, die wechselnden Probleme zu durchdringen, um sie zu beenden, sondern im Gegenteil darauf, die Konjunktur möglichst vieler, ständig wechselnder Probleme zu stimulieren – und ihre möglichst aktuelle und prozyklische Bearbeitung zu simulieren.

Das besondere Verhältnis von Merkel und Medien

Während der Bundestagswahlkampfs analysieren die WirtschaftsWoche und der Datenspezialist Attensity mit einer Sprachanalysetechnik, wie das Netz über Parteien und Politiker diskutiert.

Aus Sicht von Angela Merkel ist schön daran, dass sie selbst derzeit besonders prozyklisch begleitet wird: Noch nie fanden die Medien Merkel so ausgezeichnet, herausragend und überirdisch gut wie ausgerechnet hier und heute. Längst wird der Bundeskanzlerin die Abwesenheit von politischem Ehrgeiz als philosophische Weisheit, die Negation jedes Gestaltungsanspruchs als höhere Einsicht in die beschränkte Wirkkraft politisch-nationalen Handelns ausgelegt. Das Faktische wird in der Merkel-Medien-Republik gleichsam zirkelschlüssig erzeugt, beobachtet, bestätigt und reproduziert – praktizierte Systemtheorie sozusagen, in der Merkel und die Medien auf den jeweils anderen verweisen, um sich wechselseitig Stabilität zu verleihen.

Das geht so weit, dass Merkel noch die übelsten Schwächen ihrer Ministerriege zum medialen Vorteil gereichen. Der chronisch unbedarfte Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) schreibt mal eben das Grundgesetz um, indem er Sicherheit zu einem „Supergrundrecht“ erklärt, das dem Grundrecht der individuellen Freiheit vorausgeht – eigentlich ein Skandal. Verteidigungsminister de Maiziere (CDU) bummelt und schummelt sich durch das 500 Millionen Euro teure Euro-Hawk-Desaster – eigentlich ein Unding. Doch statt ihre Minister in den Senkel zu stellen oder zu schassen, stellt Angela Merkel sich bloß hin, maßregelt hier ein bisschen, lässt dort alles in der Schwebe – und erweckt kraft purer Hoheit den Eindruck, sie habe alles im Griff. So präsidial, majestätisch und quasiköniglich bewundert zugleich hat seit Friedrich dem Großen niemand mehr in Berlin regiert.

Die Opposition ist und bleibt in solchen neomonarchischen Zeiten durch eine Art Toleranzedikt geschützt, gewiss: Die Macht der Regentin ist schließlich so ungefährdet, dass ein bisschen Kritik und Aufklärung ihre Popularität eher erhöhen. Hat nicht zuletzt Merkel selbst die Größe besessen, der SPD für den ein oder anderen Vorschlag ihre Achtung zu bezeigen? Hach, welche Grandezza!

Freilich, was zu weit geht, geht zu weit. Ein Herausforderer, der fünf Euro und mehr für Weißwein hergibt und das Gehalt von Sparkassendirektoren kritisiert, der seine Ehefrau mal vernachlässigt („Steinbrück lieber in Mettmann als beim Geburtstag seiner Ehefrau“) und sich mal von ihr zu Tränen rühren lässt („Heulsuse“) – ein solcher Kandidat gehört natürlich erledigt („Problem-Peer“, „Der Blödmann“) – und zwar ganz unabhängig von seinen politischen Plänen.

Tatsächlich ist Peer Steinbrück von Anfang an so chancenlos gewesen wie zuvor nur Norbert Röttgen (CDU) als Herausforderer von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD): Von den Medien vorverurteilt wegen Nebensächlichkeiten, für die sich Röttgen und Steinbrück wieder und wieder rechtfertigen mussten, um in der Gunst der Wähler tiefer und tiefer zu fallen - und nur um am Ende vernichtende Niederlagen zu kassieren, die nicht den Gesetzen der Politik, sondern der Zufälligkeit medialer Konjunkturen folgen.

In deutschen Gärten werden Wahlen gewonnen

Wahlversprechen, und was daraus wurde
1988: „Eins ist sicher: die Rente“ (CDU) Noch im Sommer forderte Bundessozialministerin Ursula von der Leyen, eine Zuschussrente einzuführen. Das soll die Armut im Alter verhindern, die viele Deutsche fürchten. Denn die staatliche Rente allein reicht längst nicht mehr. Schon 2001 führte die Bundesregierung mit der Riester-Rente eine zusätzliche Vorsorge-Möglichkeit ein. 1988 klangen noch andere Töne: Einen abgesicherten Lebensabend versprach damals CDU-Sozialminister Norbert Blüm im Wahlkampf. Mit dem Spruch „Eins ist sicher: die Rente“ hatte die CDU für sich geworben. Quelle: AP
1990: CDU will Aufbau Ost aus der Porto-Kasse zahlen„Blühende Landschaften“ versprach Kanzler Helmut Kohl 1990 in den neuen Bundesländern. Dafür hatte er vor der Bundestagswahl ausgeschlossen und wollte die Wiedervereinigung „aus der Portokasse“ finanzieren. Stattdessen kam der Solidaritätszuschlag. Dieser sollte aber nicht lange bleiben. 1996 versprach Kohl: „Der Solidaritätszuschlag ist bis Ende 1999 endgültig weg.“ Heute gibt es ihn immer noch. Quelle: dapd
2005: SPD schließt eine höhere Mehrwertsteuer ausFranz Müntefering fand es 2005 als Vizekanzler „unfair“, dass die Regierung „an dem gemessen wird, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist“. Seine SPD hatte im damaligen Wahlkampf gesagt, dass es mit ihre keine höhere Mehrwertsteuer geben würde. Die CDU hatte sich für eine Erhöhung um zwei Prozentpunkte eingesetzt. Schließlich wurden es drei Prozentpunkte – mit der SPD als Koalitionspartner. Quelle: dpa/dpaweb
2005: CDU will erst raus aus dem Atomausstieg - und dann doch nichtSchon im Wahlkampf 2005 stellt die CDU den unter der SPD beschlossenen Atomausstieg in Frage. Raus aus dem Ausstieg wagt sie sich jedoch erst 2010 in einer Koalition mit der FDP. Lange fest hält sie daran nicht. Kanzlerin Angela Merkel änderte ihre Haltung ein knappes Jahr später nach der Atom-Katastrophe von Fukushima. Im Juni 2011 beschlossen Bundestag und Bundesrat, die sieben ältesten deutschen Atomkraftwerke und das Kraftwerk Krümmel sofort stillzulegen sind. Die restlichen deutschen Kernkraftwerke sollen bis 2022 abgeschaltet werden. Quelle: AP
2008: Hessens SPD will erst ohne, dann mit der LinkenRoland Koch als hessischen Ministerpräsidenten zu Fall bringen: Das war 2008 das Ziel von SPD-Spitzenkandiidatin Andrea Ypsilanti im hessischen Wahlkampf. Dafür wollte sie sogar ihr Wahlversprechen brechen, keine Koalition mit der Linken einzugehen. „Wir werden uns nicht einmal von ihr tolerieren lassen. Auch nach dem Wahlabend nicht, garantiert!“ Das waren Ypsilantis Worte vor der Wahl gewesen. Als sie sich nach der Wahl doch von der Linken tolerieren lassen wollte, ließ sie nach heftigem Widerstand von ihrem Vorhaben ab und trat zurück. Quelle: dpa
2009: CDU und FDP wollten das Kindergeld auf 200 Euro erhöhen200 Euro Kindergeld versprach die FDP vor der Bundestagswahl 2009. Die Koalition mit der CDU einigte sich sogar auf diese Erhöhung – geschehen ist seit dem nichts: Der Kindergeld-Satz liegt derzeit bei 184 Euro für das erste und zweite Kind, sowie 190 Euro für das dritte Kind. Laut einem Bericht der Bild-Zeitung von November 2012 können Eltern immerhin auf eine Erhöhung von zwei Euro bis spätestens 2014 rechnen. Quelle: AP
2009: CDU will Eingangssteuersatz senkenZum Jahresbeginn2013 dürfen sich die Steuerzahler über eine Erleichterungen freuen. Der Grundfreibetrag steigt ab jetzt schrittweise bis 2014 von 8.004 auf 8.354 Euro. Der Eingangssteuersatz bleibt jedoch gleich. Dabei hatte die CDU im Wahlkampf 2009 versprochen, ihn in zwei Schritten von 14 auf zwölf Prozent zu senken. Quelle: dpa

Was aber hat das alles mit einem schönen Nachmittag im Garten eines lieben Freundes zu tun? Nun, hier kommt Punkt drei ins Spiel. Mir ist aufgegangen, dass in solchen Gärten Wahlen gewonnen werden: in deutschen Gärten, in denen vielleicht noch von Politik die Rede ist, aber von denen sich die Deutschen wünschen, dass die Politik keinesfalls hineinregiert.

Es sind Gärten, in denen man vor allem seine Ruhe findet vor dem unverständlichen Getöse, das draußen lärmt. Es sind Gärten, in denen man entspannt und Merkel bei der täglichen Arbeit weiß: Heute Abend sehen wir sie bestimmt wieder in der Tagesschau; sehen, wie sie sich darum kümmert, dass wir uns um nichts kümmern müssen. Klimawandel, Banken-Krise, Euro-Rettung…, langsam fallen uns die Augen zu… und morgen wieder, ganz gewiss, wie täglich, grüßt die Murmel-Merkel.

Die Steinbrücks und Trittins hingegen, die Leute von der AfD auch, die Piraten – das alles sind Leute, die uns stören und behelligen, die uns warnen vor zu niedrigen Löhnen, Steuern und Zinssätzen, vor Google und Griechenland, vor abstürzenden Drohnen und schnüffelnden Spionen. Sie alle wollen rein in den Garten und uns rausholen in eine Welt, wie sie wirklich ist - eine Welt, in der gefährliche Banker um die Ecken ziehen, unsere Renten aufgefressen werden und Lohnaufstocker rumbetteln. Nur Merkel nicht, die vor dem Garten wacht und uns die Ruhe erhält: Meinem Freund und mir, wie wir uns die Köpfe heiß reden über eine digitale Welt, die im Gewand der Freiheit daherkommt und darunter das Messer ihrer algorithmischen Zwänge versteckt. Und seiner bald 18-jährigen Tochter, die mit ihrem Smartphone hantiert und nur die Augen verdreht, als wir sie danach fragen, was sie am 22. September wählen wird.

Wahrscheinlich Angela Merkel. Keiner lässt uns mehr Desinteresse durchgehen. Keiner bietet uns weniger an, um das wir uns zu kümmern hätten. Keiner behütet uns so fürsorglich vor den Zumutungen der Welt, die jenseits unserer familiären Kleingärten liegt.

Nur mit dem Soli vielleicht, da liegt Merkel falsch.

Aber dafür haben wir ja die FDP.

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