Tauchsieder
Quelle: WirtschaftsWoche

Und – was lernen wir aus der Geschichte?

Kanzler Olaf Scholz agiert ohne Gespür für die historische Dimension des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Er zaudert und zögert sich durch die „Zeitenwende“ – und riskiert Deutschlands Restreputation als Bündnispartner.

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Endlich wieder Marginalien. Die Familienministerin tritt zurück. Elon Musk kauft Twitter oder nicht. Das Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr kommt im Juni. Und Steinmeier ist nicht erwünscht in Kiew. Ja nun. Man könnte das alles schnell abhandeln, auch medial: Nicht so wichtig, knappe Meldung, spitzer Kommentar – und jetzt schnell weiter, schließlich herrscht gerade Krieg in Europa, es wird Weltgeschichte geschrieben, die russische Armee metzelt tausende Zivilisten in der Ukraine nieder, die Freiheit des Westens wird am Dnjepr verteidigt. Da gibt es Wichtigeres zu tun. Sollte man meinen. Sanktionen verschärfen. Ein Ölembargo vorbereiten. Unternehmen zum Rückzug aus Russland bewegen. Und natürlich schwere Waffen liefern: die Ukraine in die Lage versetzen, den Vormarsch der Russen nicht nur zu erdulden, sondern ihn auch stoppen, die Invasoren aus dem Land zu treiben – den Krieg zu gewinnen.

Stattdessen nun also: Große Aufregung, weil der Bundespräsident nicht eingeladen wird nach Kiew. Ein Affront, ein Fehler, das spielt Putin die Hände – es ist, als atmete die ganze Republik auf, weil wir uns endlich wieder auf vertrautem, alltagspolitischem Terrain bewegen und Haltungsnoten vergeben, das Nebensächliche zum Drama erklären, die Fußnote in die Überschrift ziehen dürfen. Und natürlich blitzkriegern einige Ampelabgeordnete sofort und erobern flugs den Nebenkriegsschauplatz – mit einer Entschlossenheit, die sich umgekehrt proportional verhält zu der Zögerlichkeit, mit der sie die pompös angekündigte „Zeitenwende“ nachvollziehen. Ein erbärmliches Schauspiel.

Der Vizepräsident des Deutschen Bundestags, Wolfgang Kubicki (FDP), hebt moralapostelnd den Zeigefinger: Die Ukraine kämpfe um ihr Überleben, „aber alles hat auch Grenzen“ – was für ein Missgriff, nicht nur rhetorisch, angesichts der Tatsache, dass Russland gerade alle Grenzen überschreitet und nicht etwa der ukrainische Präsident. Den Vogel aber schießt, wie erwartet, Rolf Mützenich ab, der SPD-Fraktionschef: „Bei allem Verständnis für die existenzielle Bedrohung der Ukraine … erwarte ich, dass sich ukrainische Repräsentanten … nicht ungebührlich in die Innenpolitik unseres Landes einmischen.“ Bei allem Respekt, Herr Mützenich: Aus dem Mund eines Vertreters ihrer Partei, die sich zwanzig Jahre lang auf maximal ungebührliche Weise mit Putins Russland verbrüdert hat, um alle Innenpolitik der Ukraine übergeordneten Interessen in Moskau und Berlin zu opfern, ist dieser Satz schlicht skandalös.

Genug. Es war unnötig, Steinmeier zu brüskieren. Und doch versteht jeder mittelmäßig interessierte Zeitungsleser sofort, dass Wolodymyr Selenskyj gerade nicht der Sinn nach präsidialen Versöhnungsgesten, deutscher Bußfertigkeit und gnädigem Schulderlass steht: Der Mann kämpft und bangt seit sieben Wochen um sein Leben und sein Land, ist rund um die Uhr mit Tod und Zerstörung, Gräueltaten und Vertreibungen konfrontiert – also muss sich Frank-Walter Steinmeier, lange Jahre der nach Gerhard Schröder wichtigste deutsche Buddy-Politiker für den Kreml, halt noch ein paar Monate gedulden. Wo bitte schön liegt das Problem? Zumal Steinmeier ausgerechnet an der Seite der Präsidenten von Polen, Estland, Lettland und Litauen nach Kiew zu reisen gedachte – Länder, die die deutsche Russland- und Pipelinepolitik stets harsch kritisiert haben, die Putin in diesen Tagen besonders klarsichtig die Stirn bieten und Deutschland seit Wochen auffordern, sich stärker für Kiew und gegen Moskau zu engagieren. Bei allem Verständnis also für das Ansinnen des Präsidialamtes, sich für die antieuropäische Pipeline-Politik mal eben hopplahopp exkulpieren zu lassen: So schmerzlos und bildsymbolisch ist die außenpolitische Zeitenwende für Deutschland nun mal nicht zu haben.

Zumal Kiew allen Grund hat, Berlin auch heute noch zu misstrauen. Deutschland, ausgerechnet, führt nicht in diesem entscheidenden „Nie-wieder-Moment“. Deutschland versammelt die EU nicht gegen Russland, sondern reiht sich allenfalls widerwillig ein in die Phalanx der Putin-Feinde. Obwohl Deutschland jetzt im Interesse der EU am energischen Abbau der verhängnisvollen Sonderbeziehungen Berlin-Moskau (von Rapallo 1922 über den Hitler-Stalin-Pakt 1939 bis hin zu Nord Stream 2) interessiert, gleichsam Sondersignale seiner Verlässlichkeit in Serie senden müsste. Obwohl Europa auf der Kippe steht. Obwohl Russland alles angreift, was wir unbedingt verteidigen müssen: Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie. Obwohl das Schicksal der Ukraine davon abhängt, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnt. Obwohl die nächsten Kriegswochen die nächsten Jahrzehnte in Europa prägen werden – so oder so.



Und doch verstecken sich Kanzler Olaf Scholz und die SPD seit Wochen hinter Eskalationssorgen, die Putin nicht kennt. Der Diktator lässt keinen Zweifel daran, dass er die Ukraine als souveränen Staat zerstören und als Nation ausradieren will – und er wird nicht zögern, in seinen eroberten Territorien alle Ukrainerinnen und Ukrainer zu vernichten, die sich künftig nicht als „Kleinrussen“ wieder hinter dem großen Bruder versammeln.

Inzwischen, immerhin, wird dem zögerlichen Kanzler sogar von der eigenen Koalition beschieden, „planlos“ zu agieren (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses) und „auf der Bremse“ zu stehen, was weitere Waffenlieferungen und Sanktionsverschärfungen anbelangt (Anton Hofreiter, Grüne, Vorsitzender des Europaausschusses). Aber was ist von einer Regierung zu halten, die sich in dieser historischen Lage noch immer was darauf zugute hält, seit 2014 „der größte finanzielle Stabilisator der Ukraine“ gewesen zu sein (Scholz)? Die mit Spritpreisrabatt und Energiesubventionen für die Industrie den Öl- und Gas-Verbrauch in Deutschland anheizt statt ihn zu begrenzen – und Putin damit noch ein paar Millionen Euro extra in die Staatskassen spült? Die permanent Signale der wirtschaftlichen Verwundbarkeit nach Moskau sendet, statt ein Ölembargo zu verhängen – so wie sie es nach dem Entsetzen der nächsten Wochen tun wird: ex post, wie immer, bloß nicht ex ante, denn wir wollen ja nicht eskalieren…

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Genug. Konzentrieren wir uns auf das Entscheidende. Versuchen wir zu verstehen, woran es dem Kanzler und der SPD, vielen Liberalen und Linken in diesen Wochen mangelt. Warum sie zögern und zaudern, wiegen und wägen – es auch nach 50 Kriegstagen, nach Butscha und Mariupol, noch vermeiden, in Putins Russland einen Feind Europas zu sehen, den man diesseits der roten Linie (Kriegseintritt der Nato) maximal entschlossen bekämpfen muss. Warum steht ihnen nicht deutlich vor Augen, dass die kaskadenhaften Schäden eines Energieembargos für Deutschland niemals größer sein können als der Schaden, den ein von Russland annektiertes „Neurussland“ für Europa mit sich bringt? Ich fürchte: aus mangelndem Geschichtssinn.

Es gibt Kipppunkte in der Weltgeschichte – Momente und Augenblicke, in denen die Welt auf den Kopf gestellt wird und die Menschen den Atem anhalten, in denen das Alte stirbt und das Neue noch nicht auf die Welt kommen will (Antonio Gramsci), in denen wir eine Zäsur spüren, die wir oft noch nicht als Zäsur verstehen können – in denen sich uns das Offene, das wir sonst begrüßen, krisenhaft in den Weg stellt, als Szenario des Schreckens offenbart: 1914, 1933, 1939 – und es spricht alles dafür, dass Putin einen solchen Kipppunkt erzwingen will: das Ende der regelbasierten Ordnung und der Vereinten Nationen, eine Revision des Zerfalls der Sowjetunion und der europäischen Osterweiterung. Gewinnt er seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine, bedeutet das für Europa: weitere heiße und kalte Kriege, schwelende Konfrontationen, hochgerüstete Grenzen, regierendes Misstrauen – dauernde Furcht vor der Macht und Skrupellosigkeit Russlands, das die Menschenrechte verachtet, das Völkerrecht mit Füßen tritt.

Und diese Elementarrisiken gehören im Kanzleramt jetzt primärpolitisch und vorgängig adressiert, also vor allen anderen Erwägungen (etwa drohende BIP-Einbußen). Es kann und darf in dieser weltgeschichtlich zugespitzten Lage, in der die Weichen dafür gestellt werden, unter welchen Rahmenbedingungen 500 Millionen Menschen in Europa in den nächsten Jahrzehnten leben werden, immer nur nachrangig um „Kosten-Nutzen-Erwägungen“ (etwa eines Ölembargos) gehen. Das heißt nicht, dass sie keine Rolle spielen dürfen. Aber das heißt sehr wohl, dass das Saldieren ökonomischer und moralphilosophischer Erwägungen und Scharmützel zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethikern („Ein starkes Deutschland nützt der Ukraine mehr als ein schwaches Deutschland.“ versus „Frieren für die Freiheit“) nicht zielführend sind, solange sie nicht von der Prämisse eines geschichtsbewussten politischen Handelns ausgehen.

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