Tauchsieder

Lass! Dich! verführen!

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Verhaltensökonomie als neue Regierungsweisheit?

Aber was soll's: Warum soll man als Autor seinen Lesern verraten, dass man bloß ein Zwerg auf den Schultern von Riesen ist? Warum die großen Urheber seiner wenig originellen Gedanken benennen? Warum an die großen Erzählungen anderer anknüpfen, die vom sukzessiven Rückzug der staatlichen Kontroll-, Straf- und Zwangsregime zu berichten wissen. Von der Internalisierung der Disziplin und des Gehorsams und von einer Gouvernementalität des Self-Trackings. Ebenso von der politisch ausbeutbaren (Selbst-)Steuerung des Gewissens, vom Sich-Verhalten des "außengeleiteten" Menschen in den modernen Massengesellschaften des liberalen Westens, kurz: von der Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Konformität - und ihrer politischen Bearbeitung im gegenwarts-gesellschaftlichen "Design"?    

Lieber zaubert Sunstein das Knallbonbon der "Behavioral Economics" aus dem Hut und präsentiert seinen Lesern die "bahnbrechenden" Erkenntnisse der Verhaltensökonomie als neuer Regierungsweisheit letzter Schluss. Das ist halbwegs begrüßenswert - und halbwegs fürchterlich. Begrüßenswert ist, dass mit dem ökonomisch denkenden Teil der akademischen Welt auch der rückständigste Teil der akademischen Welt endlich begriffen hat, dass es sich beim Menschen nicht um Rationalitätsroboter handelt, die vernünftige Entscheidungen nach Maßgabe ihrer Eigeninteressen verfolgen (homo oeconomicus). Fürchterlich ist, dass wir statt dessen mit Cass Sunstein dem Gedanken verfallen sollen, der Mensch könnte nichts weiter als ein Reizreaktionsbündel sein, ein abrichtbarer Sinnenapparat, der einer Möhre hinterher rennt oder sagen wir es freundlicher: ein pawlowscher Hund, der seine Intelligenz darauf verwendet, seinen Willen so zu dressieren, dass er nicht nach der nächsten Wurst schnappt.

Es ist wenig überraschend, dass die Politik sofort Gefallen an Sunsteins "Nudge" gefunden hat. Der britische Premier David Cameron hat 2010 ein "Bahavioral Insights Team" mit einem "Nudge Unit" installiert, die dänische Regierung ein "Mind Lab" eingerichtet, US-Präsident Barack Obama lässt sich von Cass Sunstein sogar persönlich beraten, wie es heißt. Da mochte Angela Merkel natürlich nicht zurück stehen und rekrutierte im Spätsommer 2014 im Rahmen der Strategie "Wirksames Regieren" drei Fachleute mit Expertise in Psychologie, Anthropologie und Verhaltensökonomie fürs Kanzleramt. Die Wissenschaft hat festgestellt, so Regierungssprecher Streiter, "dass viele Menschen so handeln, dass es ihren eigenen Interessen widerspricht". 

Um welche eigenen Interessen aber handelt es sich? Wer maßt sich an, besser über sie Bescheid zu wissen als man selbst? Und: Dürfen Volksvertreter mit dem Geld ihrer Bürger tatsächlich Experten einstellen, die den Auftrag haben, das Volk - in seinem Sinne, versteht sich - zu manipulieren? Merkel hat sich mit ihrer Initiative nicht nur den Spott der BILD-Zeitung zugezogen ("Wird Deutschland künftig im Guru-Stil regiert?"), sondern auch sogleich alle Vulgärliberalen auf den Plan gerufen, die seit 150 Jahren vor der Freiheitsberaubung eines bevormundenden Nanny-Staates warnen. Schwerer wiegen da schon die Warnungen vor einem "Psycho-Staat", der sich "auf dem Rückweg vom Risiko zum Tabu" befindet, so der Medienphilosoph Norbert Bolz: Das Interesse des Menschen an Zigaretten, Big Macs und Billigfliegern mag kurzfristig, ungesund, unvernünftig sein - aber es ist und bleibt deshalb dennoch ein Interesse, das von staatlicher Seite jederzeit adressiert und vielleicht sanktioniert, zugleich unbedingt akzeptiert und keinesfalls tabuisiert werden darf. 

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