Tauchsieder

Rasend in den Stillstand

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Vertane Chancen – und nur noch drei Wochen


Unterdessen legen Merz und Laschet (und Lindner) tatsächlich noch einmal den Trickle-down-Schlager aus den Siebzigerjahren auf, wollen Steuern senken, sparen, Schulden minimieren – eine Unmöglichkeit, wie jeder weiß (jedenfalls abgesehen von der Streichung des Solidarzuschlags für alle) oder auch: eine Lüge angesichts der ökonomischen Ausnahmesituation nach Corona, der demografischen Lage, der inzwischen rettungslos aus dem Ruder gelaufenen Steuerzuschüsse für das Renten- und Gesundheitssystem.   

Gleichwohl: Das Rennen ist noch nicht gelaufen – und die Chancen, dass Armin Laschet Kanzler wird, sind immer noch leidlich passabel. Er hat viel Kritik einstecken müssen in den vergangenen Monaten, dafür gibt es gute Gründe. Aber die Häme, die in den asozialen Medien seit Wochen gewohnheitsmäßig über ihn ausgekübelt wird, die hat er nicht verdient: Laschet hört den Menschen zu und will sie zusammenführen, er wägt ab, grenzt nicht aus, sucht den Konsens, wenn auch auf Kosten der Führungs- und Entschlusskraft: Die Deutschen wollen keinen Sucher im Kanzleramt, sondern einen Finder.

Laschets letzte Patrone: Die Furcht der Deutschen vor einem Linksbündnis, das Scholz nicht kategorisch ausschließen will. Die Möglichkeiten und Risiken dieser Strategie sind schwer einzuschätzen. Scholz meint das Thema abzuräumen mit gebetsmühlenartigen Hinweisen darauf, dass er als Person für eine verlässliche Außenpolitik, für ein Bekenntnis zur Nato und zu Europa und eine solide Finanzpolitik bürge: Kein Linksruck mit mir! Aber die Linke, beinah' schon glücklich vergessen, ist plötzlich wieder Thema - und ihre fast schon aufdringlichen Avancen und Mitregierungsambitionen könnten Scholz auf der Zielgeraden noch schaden. Und Annalena Baerbock? Sie hätte sich und die Grünen womöglich grandios zurück ins Wettrennen um das Vertrauen der Mitte-Wähler bringen können mit dem Satz: „Olaf Scholz schließt ein Linksbündnis nicht kategorisch aus. Ich schon. Ich will Deutschland als Kanzlerin der Mitte dienen.“ Chance vertan.

Andererseits scheinen die meisten Deutschen der SPD die Linksbündnis-Option nicht zu verübeln, solange sie von ihr annehmen, dass Scholz sie nicht zieht. Und der inquistorische Stil von Laschet, sein kirchenverhörähnliches „Confite!“ vermag Scholz auch deshalb nicht in Bedrängnis zu bringen, weil die Union selbst nicht gerade bekenntnisfroh ist, wenn es etwa darum geht, in Thüringen und Sachsen-Anhalt auf den rechten Abstand zur AfD zu dringen.

Im Moment deutet alles darauf hin, dass sich eine relative Mehrheit der Deutschen abermals einen Kapitän wünscht, der das Schiff in schwerer See irgendwie auf einem indifferenten Kurs hält – jedenfalls keinen, den sie für eine Leichtmatrosen halten (Laschet), oder die allzu forsch auf neue Ziele zusteuert (Baerbock). Einen Kapitän, von dem sie annehmen, dass er seine Mannschaft (die SPD) unter Kontrolle hat, kein schräges Personal anheuert (Linke) – und jederzeit respektvoll mit denen umgeht, die im Maschinenraum werkeln (also den Deutschen).

Das ist nicht viel. Das reicht womöglich für einen knappen, relativen Wahlsieg. Aber reicht das auch für Deutschland? Mehr als die Hälfte der jungen Wähler bis 30 wünscht sich das Land so pragmatisch wie zukunftsfroh Grün-Gelb(-Volt) regiert: Klimaschutz plus Digitalisierung, Mobilitätswende plus Bürokratieabbau. Sie werden enttäuscht sein, ganz gleich, ob künftig Scholz oder Laschet die Gegenwart abstottert – übrigens auch von Grünen und Liberalen, die immer noch wechselseitig ihren kulturellen Ekel pflegen statt eine Innovationspartnerschaft zu erproben.        

Ein letzter Punkt: Mehr als die Hälfte der Deutschen findet inzwischen, dass „soziale Gerechtigkeit“ das wichtigste Thema in diesem Wahlkampf ist. Eine „sozialdemokratisierte“ Union unter Angela Merkel hat es stets blendend verstanden, die Erfolge der SPD (Hartz-IV-Reform, Kurzarbeitergeld, Mindestlohn, Grundrente) politisch zu kapitalisieren – die Laschet-Merz-CDU hat dieses Vermögen in nur wenigen Monaten verjubelt, genauer: einer SPD überwiesen, die die Deutschen für eine Olaf-Scholz-Partei halten.

Es wäre daher viel gewonnen, wenn Union und SPD (auch Grüne und FDP) die zentrale Lehre aus diesem Wahlkampf ziehen würden: Die älteren Deutschen wollen vor allem moderat und mittig, die jüngeren vor allem modern und gut regiert werden, nicht irrlichternd, ideologisch, altbürgerlich, links, sondern stabil und verlässlich, nüchtern und zukunftsorientiert: „Sicherheit im Wandel“. Eben deshalb hat vor der Nominierung der Spitzenkandidaten fast alles für ein (recht liberales) Schwarz-Grün-Bündnis gesprochen.

Sei’s drum. Blinkte die SPD im Falle ihrer Regierungsübernahme zu stark links, wäre sie das Vertrauen, das sie gerade zu gewinnen scheint, gleich wieder los. Setzte Armin Laschet auf ein „Reformbündnis“ mit Merz und Lindner, ließe die Union endgültig den Kontakt zu den Durchschnittsdeutschen abreißen.

Nur auf der Basis des Grundvertrauens, dass sich bei allen Veränderungen nicht allzu viel ändert, kann welche Koalition auch immer in den nächsten vier Jahren das Land politisch verändern. Die Deutschen brechen aus einem sicheren Hafen auf in die offene See – oder gar nicht.

Drei Wochen noch. Die Wahlkämpfer sind jetzt im Tunnel, berauscht vom Adrenalin der Umfragen und Fernsehauftritte, der Marktplatzgespräche und Twittertwists, der Strategiegespräche und Sprechzettelparolen. Sie stehen jetzt unter der dauernden Bobachtung von Kameras, Mikrofonen, Notizbüchern und Smartphones, werden permanent taxiert und bewertet von Journalisten, Aktivisten, Kabarettisten. Sie müssen jetzt allzeit fehlerfrei das Programm hersagen und pointierte Kernbotschaften aussenden können, Spitzen setzen, Seriosität ausstrahlen, Schlagfertigkeit beweisen. Sie müssen gendersensibel sprechen und unbedingt bürgernah wirken, die aktuelle Nachtrichtenlage souverän bemeinen, große und rote Linien aufzeigen und bei alledem natürlich auch ein wenig Privates und Persönliches offenbaren.

Drei Wochen noch, dann geht’s raus aus diesem Tunnel und rein in die Realität. Ein politischer Lockdown droht. Also reißt euch zusammen. Nehmt den Wählerwillen zur Kenntnis. Und macht was draus!

Mehr zum Thema: Die Laschet-Union und die Baerbock-Grünen – zwei politische Weichwährungen im Abwertungswettlauf. Eine Bodenbildung nach dem Kursverfall? Nicht in Sicht. Eher brechen die letzten Unterstützungslinien.

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