Tauchsieder

Wer wird Kanzler?

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Viele Fragen sind offen

Heute wirkt der Abgesang fast schon überspannt. Ließe sich Angela Merkel zu einer weiteren Amtszeit überreden – die Deutschen würden sie wohl einmal mehr wählen. Obwohl die meisten Herausforderungen unbearbeitet geblieben sind, sich die Liste der Aufgaben verlängert hat. Die Automobilindustrie muss eine Transformation meistern – Ausgang ungewiss. Die deutsche Exportwirtschaft droht im Handelskrieg und Systemkonflikt zwischen den USA und China aufgerieben zu werden – Ende offen. Das europäische Modell einer eher kleinteiligen Markt- und Konkurrenzwirtschaft muss sich gegenüber dem amerikanischen Venturekapitalismus und dem chinesischen Staatskapitalismus behaupten – nur wie? Industrie 4.0, Wasserstoff, E-Auto, KI-Strategie. Klimaziele, Kohleausstieg, Green Growth und emissionsfreie Städte. Eine europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik und die große Staatsschuldenfrage. Eine Investitions- und Bildungsoffensive sowie digitalisierte Exzellenzunternehmen aus München, Mailand und Madrid...- wie sagte Armin Laschet so schön: „Vor uns liegen die Zwanzigerjahre...“

Mit Friedrich Merz an der Spitze? Kaum. Im Moment spricht alles gegen ihn. Keine exekutive Macht. Keine AfD-Wähler, die er zurückgewinnen müsste. Die Einführung einer Frauenquote hält er für lässlich. Die Wirtschaftspolitik, die er repräsentiert, ist buchstäblich von gestern. Steuern runter. Sparen. Schwarze Null. Und das heißt: Kürte die CDU Friedrich Merz, würden vor allem im Willy-Brandt-Haus die Sektkorken knallen. SPD-Kandidat Olaf Scholz und seine Lieblingsökonomen kennen (vorerst) keine Budgetrestriktionen mehr. Der Staat kann sich, zumal in Nullzinszeiten, praktisch unbegrenzt verschulden, so das Credo; er muss sich nicht mehr fragen: Was kann ich mir leisten? Sondern nur noch: Was will ich mir leisten? Und weiß Gott, darauf Antworten zu finden, das fällt Sozialdemokraten immer leicht.

Norbert Röttgen? War Bundesminister. Und ist ein sehr profilierter Außenpolitiker, der Woche für Woche an Statur und Sichtbarkeit gewinnt. Er profitiert mit wertkonservativer Klarheit von der Rückkehr weltanschaulicher Grundsatzfragen (Huawei, Nawalny, Hongkong) – und stünde jederzeit für die bereits angestoßenen schwarz-grünen Allianzprojekte in Deutschland und Europa ein (Green New Deal). Er könnte den Deutschen mit seiner eigenen Schmidthaftigkeit gefallen und Scholz in Schach halten. Allein die CDU hat noch nie wirklich Gefallen an ihm gefunden.



Armin Laschet also? Nicht ausgeschlossen, dass die Union ihn vor dem Parteitag im Dezember an seinen Vorschlag für eine Teamlösung erinnert – und doch noch Jens Spahn aufs Podest hebt. Nicht, weil es Laschet an Substanz mangelte. Wohl aber, weil er sie nicht verkörpert und gegen einen hanseatisch-bürgerlich-schmidthaft-staatsmännischen Scholz im Wahlkampf etwas schwachbrüstig erscheinen könnte. Spahn also – oder Markus Söder? Jeder Kandidat wird es, einmal zum Kandidaten erhoben, auch mit Merkel aufnehmen, sich an ihr messen lassen müssen – was die Union leicht ein paar Prozentpunkte in Umfragen kosten dürfte. Fest steht: Dem bayerischen Ministerpräsidenten, bei dem die Grenzen zwischen Opportunität und Opportunismus jederzeit fließend sind, scheinen derzeit die meisten Deutschen die Regierungsgeschäfte anvertrauen zu wollen. Aber die meisten Deutschen sind nicht die meisten in der Union. Auch war das Land noch nie bereit für einen Kanzler der CSU.

Olaf Scholz hat in den nächsten zwölf Monaten vor allem zwei Dinge zu erledigen: Er wird eine Koalition mit der Linken (und den Grünen) ausschließen müssen ohne sie explizit auszuschließen – und er wird seinen intellektuellen Hochmut zügeln müssen. Arroganz ist kein Ausschlusskriterium für einen Kandidaten. Aber in den CumEx- und Wirecard-Befragungen personifizierte er zuletzt die Arroganz der Macht. Und das dürfte den Deutschen nicht gefallen. So gesehen ist seine Vizekanzlerschaft eine Bürde.


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Schließlich die Grünen. Auch für sie gibt es zwei Fragen zu klären. Erstens: Ein eigener Kanzlerkandidat oder nicht? Zweitens: Annalena Baerbock oder Robert Habeck? Die Antworten fallen nicht leicht aus. Entsagen die Grünen von vornherein der Kanzlermacht, könnte das die Olaf-Scholz-SPD stärken: Bundestagswahlen sind auch Personenwahlen. Andererseits wäre es möglich, dass die Grünen eben davon profitieren; viele Deutsche wünschen sich die Grünen als starke zweite Kraft – aber nicht am Ruder. Mit Kanzlerkandidat Habeck könnte die Partei daher, wenn alles schlecht läuft, bei 13 Prozent landen. Mit Spitzenkandidatin Baerbock bei 23 Prozent. Könnte, wohlgemerkt. Vielleicht aber auch umgekehrt.

Und die Lindner-FDP? Vorerst nicht der Rede wert. Sie hat 2017 nicht mit Schwarzen und Grünen regieren wollen – und will jetzt Stimmen einsammeln für eine Junior-Junior-Partnerschaft mit Roten und Grünen. Das ist, mit Verlaub, keine attraktive Perspektive, sondern ein Treppenwitz der jüngeren Parteigeschichte. Der einzige Vorteil der Liberalen: Sie haben am wenigsten zu verlieren. Wieder einmal. Nur wüsste man gerne, was man mit ihnen noch gewinnen kann. Denn wie gesagt: „Vor uns liegen die Zwanzigerjahre...“

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