Tauchsieder

Die falschen Freunde der Freiheit

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Von zivilisationskritischen Wachstumsbremsern und libertären Liberallalas

Kleinkluge Schrumpfliberale zeichnen sich von Rechtslibertär bis Anarcholinks vor allem durch die Größe ihres Egos aus. Sie nehmen etwa an der Wall Street von sich an, „Masters of the Universe“ zu sein. Sie strecken aus besetzten Häusern angeblich konsumverzwergten Kapitalismussklaven den Mittelfinger entgegen. Oder aber sie rasen auch nur lichthupend mit Tempo 220 über die A3. Das alles kann man machen – permissive Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie schwachtolerant über (fast) alles hinwegsehen, solange es sie nicht selbst betrifft: Laissez-faire halt; macht doch, was ihr wollt. Aber bitte, man muss sich klar sein, dass es dem "guten Zusammenleben" (Michael Sandel) insgesamt nicht dienlich ist, wenn man permanent Selbstgenuss und Selbstverwirklichung mit Selbstbestimmung und Selbstverantwortung verwechselt.

Schon gar nicht mit Mill. Denn dessen Freiheitsbegriff ist tatsächlich eng verknüpft mit Selbstverantwortung, genauer: mit der selbstanspruchsvollen Inbesitznahme persönlicher Freiheit. Mills „Freiheit“ hat eine qualitative Dimension. Sie zielt (pädagogisch) auf ihre Ermöglichung ab und kann daher im Anschluss an den kanadischen Philosophen Charles Taylor als Einübung in eine „Praxis steuernde Kontrolle über das eigene Leben“ verstanden werden. Mills Freiheit ist uns Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben. Sie ist nicht einfach vorhanden, gleichsam frei verfügbar, sondern eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“ (Taylor) – mit Blick auf uns und alle anderen. Sie besteht nicht (nur) in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen. Und diese Ziele sind, als menschliche, zwingend zwischenmenschlich: Wir sind als Individuen niemals mit uns selbst identisch, sondern plurale, transkulturelle, vernetzte Sozialwesen – sind (nur) frei als Individuen durch andere. Selbst Goethe hat sich in diesem Sinne „als Kreuzungspunkt, als Durchgangsstätte, als Kondensationsknoten vieler anderer Individuen und kultureller Stränge“ verstanden (Wolfgang Welsch): „Was bin ich denn selbst?“, so bilanziert der Dichter sein Leben und Schaffen einen Monat vor seinem Tod: „Was habe ich gemacht?… Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das Ihrige beigetragen… So erntete ich oft, was andere gesäet; mein Leben ist das eines Kollektivwesens…“ 

(4) Freilich, die „Schädigung anderer“, die nach Mill die Grenze der Freiheit bezeichnet, kann von Aktivisten heute mühelos und aus jedem noch so geringfügigen Anlass nachgewiesen werden: Der Verzehr einer Avocado geht heute womöglich nicht mehr nur auf Kosten der Lebensqualität eines Plantagenarbeiters in Peru, sondern schädigt womöglich auch die Lebensgrundlagen unserer nichtgeborenen Enkel. Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht vor ein paar Monaten die „eingriffsähnliche Vorwirkung“ einer Politik gerügt, die aus Rücksicht auf die Freiheitsrechte der Menschen heute riskiert, dass der „CO2-relevante Freiheitsgebrauch“ der nächsten Generation „immer stärkeren, auch verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein“ wird. Ins Umgangssprachliche übersetzt heißt das: Die Freiheit eines Deutschen anno 2021, rund um die Welt zu fliegen und einen SUV zu fahren, muss vom Gesetzgeber klimapolitisch und grundrechtlich abgewogen werden gegen die potenzielle Unfreiheit eines Deutschen anno 2050, der eben dazu nicht mehr in der Lage sein könnte – sei es, weil der Klimawandel selbst ihm dazu keine Gelegenheit mehr böte oder aber weil ihm das Verfassungsrecht, indem es einem (verschärften) Klimawandel rechtlich Rechnung tragen müsse, das Fliegen und SUV-Fahren verböte.  

Das ist der Kern des Urteils der Verfassungsrichter. Es ist kein „Sieg“ für zivilisationskritische Wachstumsbremser, wohl aber eine „Niederlage“ für libertäre Liberallalas. Denn die Richter haben mit ihrer Entscheidung paradoxerweise nichts (vor-)entschieden, allein das Spielfeld für Aushandlungsprozesse zwischen Gegenwart und Zukunft, Alten und Jungen, Freiheit und Verantwortung eröffnet – ein Spielfeld, das schrumpfliberale Tempo-210-Freunde sich bisher weigern zu betreten, weil sie bevorzugen, auf den billigen Rängen der Politik ihre denunziatorischen Sprechchöre („Verbotspolitik“, „Bevormundung“) abzusingen. Damit ist es vorbei. Die Richter verpflichten die Politik, den rechtlichen Grundstein für das zu legen, was man in Anlehnung an einen Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften die „intergenerationelle Internalisierung externer Kosten“ nennen könnte – für einen Ordnungsrahmen, der einen Teil der sozialökonomischen Kosten des Klimawandels dem Kollektiv der (heutigen) Verursacher zurechnet, damit sie nicht mehr (ausschließlich) künftigen Generationen aufgebürdet werden.

(5) Die anspruchsvolle Aufgabe des Liberalismus bestünde daher heute vor allem darin, eine qualitative Bestimmung vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden, welche wollen wir dennoch dulden – und welche sollen unantastbar sein? Genau dazu ruft das Bundesverfassungsgericht auf – übrigens nicht nur die Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt: Wir sollen uns über den Unterschied informieren, den es für uns und unsere Nachfahren macht, etwa einen 15-Liter-SUV, einen Drei-Liter-Polo oder ein E-Auto zu fahren. Einerseits. Andererseits geht es immer auch auch darum, die Freiheit derer zu schützen, die nicht immer nur Kürbis vom Bio-Bauern nebenan essen wollen, sondern auch mal eine Flugananas – und sei diese Wahl noch so vernunftfrei. Man kann und muss das Urteil der Verfassungsrichter auch so lesen, dass es künftigen Generationen die vernunftferne Freiheit zum Verzehr einer Flugananas erhalten will. Denn dabei bleibt es: Jede Einschränkung der individuellen Freiheit (heute) muss gut begründet werden - und die Beweispflicht liegt in liberalen Gesellschaften zwingend bei denen, die individuelle Freiheiten einschränken wollen. Und nicht jede Freiheit, die man sich „trotzdem“ nimmt, darf mit dem Hinweis auf einen „Klimanotstand“ unter Verdacht gestellt werden, andere zu schädigen.

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Und damit sind wir beim letzten Punkt: Die Rettung der Freiheit vor ihrer Überwältigung im Namen eines primären  Gemeinschaftsziels oder einer „höheren Vernunft“: der Solidarität, der Gemeinschaft, der Nation, des Gemeinwohls – oder des Klimas. Wir wissen seit Hegel (1770 - 1831), dass am Ende solcher Gedankenspiele die Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ verenden kann, also bestenfalls als Unterwerfung unter einen geschichtlichen Willen, der es angeblich gut mit uns meint. Aber ob man seine Freiheit dem waltenden Weltgeist opfert, einer großen Idee, dem Himmel auf Erden, ob man ihren höchsten Ausdruck in Gottesgehorsam erblickt (und sich in die Luft sprengt) oder auch nur einer Superintelligenz unterwerfen möchte, die uns den Flugverkehr und den Fleischverzehr verbietet, weil wir selbst dazu nicht imstande sind – all diese „wahren Freiheiten“ sind immer nur fratzenhafte Masken der Freiheit.

Daher ist immer Vorsicht geboten, wenn die „Freiheit“ als das Eine und Größte allzu hoch aufs Schild gehoben wird – um sie im Einzelnen und Kleinen zu zersetzen. Einer so verstandenen Freiheit wohnt ein totalitärer Zug inne, weil sie ihren relationalen, zwischenmenschlichen Kern dementiert. Es ist etwas anderes, zu sagen, wegen des Klimawandels oder der Pandemie kann es sinnvoll sein, unserer Freiheit Grenzen zu ihrer Sicherung zu setzen – als zu sagen, im Namen der Gesundheit des Weltklimas oder der politischen Hygiene verordne ich eine Impfpflicht und ein Verbot von Fernflügen. Im ersten Fall werden „Freiheitsgrade“ (Christoph Möllers) gegeneinander abgewogen und ausgehandelt, im zweiten Fall Freiheitsspielräume im Namen dessen geschlossen, was eine Mehrheit augenblicklich für opportun hält.

Das Beispiel der „Impfpflicht“ zeigt, auf welch’ schiefe Bahn wir dabei geraten können: Wir täten weiß Gott gut daran, sie beiderseits nicht mit dem Pathos konkurrierender Maximalbegriffe von „Freiheit(sberaubung)“ zu verhandeln, sondern pragmatisch, sprich: klassisch ökonomisch, als „Tradeoff“ konkurrierender Freiheitsziele. Es ist daher geradezu grotesk, das die Regierung die „Impfpflicht“ in einem hochdynamischen Pandemiegeschehen zu einer statuarischen Grundsatzfrage stilisiert – man fragt sich inzwischen wirklich, mit Verlaub, für wie blöd sie den Souverän hält. Denn selbstverständlich haben wir es – spätestens seit sich mit „Omikron“ der Übergang in eine endemische Lage andeuten könnte – nicht mit einer „Gewissensfrage“ zu tun, die die Aufhebung des Fraktionszwangs in Bundestag nahelegt, sondern mit einer schlichten „Ermessensfrage“, die regierungsamtliche Führung verlangt – und die Idee einer allgemeinen „Impfpflicht“ als unverhältnismäßig zurückweist.



Statt dessen leistet sich die Regierung aus Angst vor der Einführung einer allgemeinen „Impfpflicht“ eine wochenlange Diskussion über sie, um dieselbe „Impfpflicht“, die man ehedem ausgeschlossen hatte, irgendwann im Frühjahr still beerdigen (oder auch gegen inzwischen längst überwiegende Zweifel durchsetzen) zu können. Man könnte auch sagen: Die Ampel leistet sich gegenwärtig – Problemperspektive sechs – die Freiheit zur politischen  Verantwortungsflucht.

Mehr zum Thema: Der FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki stemmt sich im Bundestag gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Sein Einspruch ist wichtig. Die Debatte braucht Zeit. Zu schwer wiegen die Einwände. Und Omikron ändert ohnehin alles.

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