




Zu den fragwürdigsten Innovationen des zeitgenössischen Journalismus gehört der legere Umgang mit dem Phantom. Früher rechnete man es sich in der Branche zur Ehre an, das Phantom zu jagen, es zu erlegen, zur Strecke zu bringen. Heute wird das Phantom aus dem Hut gezaubert, um es als Zirkusnummer in der Manege einer Öffentlichkeit auszustellen, die nach rhetorischen Sensationen, steilen Gesinnungen, frisierten Meinungen, verzerrten Weltwahrnehmungen giert.
Eines dieser Phantome geisterte vergangene Woche unter dem Namen „Flüchtlingseuphorie“ durch den Kosmos der Online-Portale und Sozialen Netzwerke - und natürlich: Hinter dem so hübsch ersonnenen Schlagwort (Urheber: Jan Fleischhauer, Spiegel Online) versammelten sich sofort all jene Jünger Pawlows, die seit Jahren mit deprimierend redundantem Vokabular die „Naivität“ von „Gutmenschen“ anprangern, um sich selbst als Inhaber eines kühlen Kopfes voller Sachverstand auszuzeichnen.
Ein Individualpsychologe mag hinter derlei Verhalten eine narzisstische Störung vermuten, das Ressentiment obwalten sehen, vielleicht auch Spuren von Dekadenz und kulturellem Selbsthass erkennen - jedenfalls muss man schon reichlich intellektuellenstolz oder bösartig oder willensblind oder aber alles zugleich sein, um etwa zu dem Schluss zu kommen, das das Mitgefühl „aus allen Medien tropft“ und von einem „bemerkenswerten Mangel an Verstand in diesem Land“ zeugt.
Den Kurzschluss auf die Spitze trieb wieder einmal der Publizist Henryk M. Broder, der in der Welt nach dem Beifall der Ausländer-Ängstlichen und Vorurteilsbereiten heischte und dafür die Überschrift „Wer nur Mitleid empfindet, der hat keinen Verstand“ passend fand.
Wie reagiert man auf so einen Satz, der inhaltlich leer ist, also allein in böser Absicht formuliert? Am besten, man erledigt ihn schnellschnell.
Erstens: Es gibt keine Menschen, die nur Gefühl sind, nur Verstand. Der Mensch zeichnet u.a. durch a) Instinktkontrolle, b) Intersubjektivität, c) Reflexionsvermögen, d) Empathiefähigkeit aus.
Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)
Zypern
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.255
...pro 100.000 Einwohner: 145
Deutschland
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 126.705
...pro 100.000 Einwohner: 158
Belgien
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.030
...pro 100.000 Einwohner: 189
Ungarn
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 18.895
...pro 100.000 Einwohner: 190
Luxemburg
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.070
...pro 100.000 Einwohner: 199
Österreich
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 17.500
...pro 100.000 Einwohner: 207
Norwegen
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 11.930
...pro 100.000 Einwohner: 236
Schweiz
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.305
...pro 100.000 Einwohner: 265
Malta
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 2.245
...pro 100.000 Einwohner: 533
Schweden
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 54.270
...pro 100.000 Einwohner: 568
Zweitens: Wer daher kein Mitleid mit Hilfesuchenden entwickeln kann, sollte sich sorgen um das Vermögen seiner Mitmenschlichkeit.
Drittens: Auch Henryk M. Broder sollte sich weniger vor seinem Satz als vor dessen Umkehrung fürchten: „Wer nur Verstand hat, empfindet kein Mitleid.“
Viertens zeichnet sich die Moderne ganz gewiss nicht durch überschüssiges Mitleid aus; eher ist es so, dass wir uns das Leid anderer buchstäblich vom Leib halten, sowohl institutionell (etwa durch den Steuerstaat) als auch routiniert (zum Beispiel im Umgang mit den Massenmedien).
Und fünftens: Mitleid schwächt nicht den politischen Verstand, sondern schärft ihn. (Nur) wer zwischen Regimen zu unterscheiden weiß, die die Empathie für den Einzelnen - für seine individuelle Freiheit - ins Zentrum ihres Selbstverständnisses stellen und solchen, die ihre Bürger verdächtigen, verfolgen, einsperren, ist gegen grobe politische Fehleinschätzungen gefeit.