Welche politischen Schlüsse aber zieht man aus diesen Entwicklungen? Für Krugman und Steglitz war die Sache - mit Blick auf die USA - sonnenklar: Die neue Ungleichheit verdanke sich nicht dem globalisierten Wettbewerb, sondern einer George-W.-Bush-Politik, die das eine Prozent der Superreichen begünstigt und die anderen 99 Prozent mehr oder weniger auspresst habe. US-Präsident Barack Obama hat den Argumentationsfaden der beiden Ökonomen aufgenommen und stets sehr ähnlich argumentiert: Seine Vorgänger hätten die Gewerkschaften zerlegt, die Mindestlöhne gedrückt und den Wirtschaftslobbyisten die Hoheit über den politischen Diskurs eingeräumt. Darunter, so Obama, habe nicht nur die Demokratie gelitten, sondern auch die Wirtschaft; es sei ja heute kaum noch einer da, der genügend Geld habe, um es auch auszugeben. Entsprechend hat sich Obama an einer Schubumkehr der auseinander driftenden Lebensverhältnisse und an einer Neugestaltung der amerikanischen Mittelschicht versucht: wenig sparen, viel umverteilen, keine Politik der Konzernwohlfahrt. Stattdessen: aktive Arbeitsmarktpolitik, grüne Investitionen, staatliche Sicherung des Wohlfahrtsstaates. Aber so ehrenhaft wie die Anliegen Obamas auch immer waren - ein Blick auf den Staatshaushalt der USA genügt, um zu sehen, dass er gescheitert ist.
Denn eine Stärkung der Mittelschicht gelingt nicht im Wege der Konsum- und Kreditexpansion, sondern im Wege des Sparens, des Konsumverzichts und der Eigentumsbildung. Hier liegt wohl der Schlüssel der Lösung, auch für Deutschland. In der DIW-Studie heißt es zum Beispiel, dass nur 38 Prozent der Deutschen eine selbstgenutzte Immobilie besitzen. Im Umkehrschluss heißt das: 62 Prozent der Deutschen wohnen zur Miete. In der DIW-Studie heißt es außerdem, dass der Anteil der Personen mit Schulden sich in den vergangenen zehn Jahren von 27,5 Prozent auf 32 Prozent erhöht habe - wobei der größte Teil der Schuldenexpansion auf das Konto von Konsumkrediten geht.
Eine kluge Politik müsste daher den Versuch unternehmen, dem neuen Dienstleistungsproletariat Wege aus seiner "Reservenlosigkeit", "Wurzellosigkeit" und "Abhängigkeit" zu weisen und die Armen in Richtung Mittelklasse in Sicherheit zu bringen, damit sie gar nicht erst der "Stallfütterung des Staates" (Röpke) anheim fallen. Dazu bräuchte es vor allem Mut. Es müssten sich zum Beispiel in den Reihen der SPD Politiker finden, die keine Mietpreisbremsen und Stromzuschüsse fordern, sondern die den Deutschen mal wieder klar machten, dass Eigentumsaufbau und Altersvorsorge auch Geringverdienern Verzicht abverlangt, konkret: dass es kein Menschenrecht auf billige Mieten und dritte Zähne, auf iPhones und Italien-Urlaub, auf zwei Kinobesuche im Monat und ein Einzelzimmer im Altersheim gibt.
Es müssten sich zum Beispiel bei der Union Politiker finden, die die langfristige (Wohn-)Eigentumsbildung von Geringverdienern von staatlicher Seite sehr großzügig bezuschussen wollen, also Politiker, die die "Soziale Marktwirtschaft" in Richtung Zukunft denken statt sie in die Vergangenheit hinein zu verlängern (Stichwort Mütterrente). Und um das Ganze zu bezahlen, müssten sich schließlich in der FDP die Stimmen mehren, dass die Kapitaleinkünfte der Reichen nicht nur mit 25 Prozent besteuert gehören, sondern mit dem normalen Einkommenssteuersatz (also 30 Prozent plus), am besten garniert mit dem Satz: "Und wem das zu viel ist, der kann sich gern ein anderes Land suchen." Auch die höhere Besteuerung von (privaten) Erbschaften ist geboten: Deutschland kann schließlich kein Interesse daran haben, dass die Leistungsbereitschaft des Eliten-Nachwuchses erlahmt, nur weil dieser Nachwuchs nicht weiß wohin mit dem geerbten Geld.
Kurzum: Eine solche Politik würde sich nicht in endlosen Debatten über Spitzensteuersätze und Managergehälter verzetteln, um die (vergleichsweise geringe) Ungleichheit der Lohneinkommen zu korrigieren. Sondern das Problem der Ungleichheit an der doppelten Wurzel zu packen versuchen. Am Ausgangspunkt einer solchen Politik steht "der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft" die "soziale Struktur" der Ungleichheit aufzubrechen, so Ludwig Erhard: eine Politik, die den Aufbau von Eigentum in der Breite stärkt und Eigentumskonzentration nicht im Wege des Ressentiments gegen Reiche, wohl aber im Wege ihrer steuerrechtlichen Gleichbehandlung mäßigt.