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Ist Reichtum unmoralisch?

Wer zu viel Geld besitzt, verletzt die Würde seiner Mitmenschen, behauptet der Philosoph Christian Neuhäuser. Er fordert: Bei 4200 Euro netto im Monat muss Schluss sein! Hat er gute Gründe auf seiner Seite?

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Es ist zweifellos wichtig, mit Forschern wie Anthony Atkinson und Branko Milanovic die Frage der Ungleichheit zu diskutieren. Das erkennen mittlerweile sowohl vormalige Apologeten der Ungleichheitstoleranz (vulgo: Liberale) als auch castronostalgische Kapitalismuskritiker (vulgo: Sozialisten) an, die noch vor wenigen Jahren ein A-16-Gehalt als Raub am ausgebeuteten Proletariat konfiszieren wollten.
Mittlerweile ist Konsens: Die materielle Ungleichheit in Industrieländern nimmt zu, die Hyperkonzentration von Vermögen sogar dramatische Züge an, womit im buchstäblichen Sinn die Frage nach der „Macht des Geldes“, genauer: nach der Macht des demokratisch nicht legitimierten Finanzpublikums gestellt ist. Das ist wichtig, denn es gab bis zuletzt marktreligiöse Forscher und Publizisten, die das Thema „Ungleichheit“ unter Neid- und Linksverdacht gestellt, die Oligarchisierung der Finanzmärkte und den organisierten Steuerbetrug marginalisiert haben.

Konsens ist mittlerweile auch: Bestimmte Formen vom „Ungleichheit“ sind nicht nur moralisch zweifelhaft, sondern vor allem dysfunktional, weil sie sich selber reproduzieren, vervielfältigen und fortschreiben. Das heißt: Die vielleicht elementarste Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn eine Gesellschaft durch ihre Versteinerung auffällig wird - wenn sozial unterprivilegierte Menschen so gut wie keine Perspektive mehr haben, ihrer sozialen Unterprivilegiertheit zu entkommen.

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Jeder weiß drittens: Das Wirtschaftswachstum in Industrieländern hat sich von der Lohnentwicklung und vom Wohlstandszuwachs der Arbeitnehmer abgekoppelt, erst recht die Gewinne von Konzernen, aller großzügigen Tarifabschlüsse in Deutschland zum Trotz. Statt zu breiter Wohlstandsverteilung kommt es seit den Siebzigerjahren zu einer sowohl individuellen wie institutionellen Reichtumskonzentration - verstärkt wird dieser Trend durch die „Winner-takes-it-all-Märkte der digitalisierten Plattformökonomie: trickle up statt trickle down. Das kapitalistische Versprechen Ludwig Erhards („Wohlstand für alle“), demzufolge „man sich durch harte Arbeit auch ein paar schöne Dinge leisten kann“, so der Soziologe Heinz Bude, geht etwa „bei den einfachen Dienstleistungen,... beim Serviceproletariat... nicht auf.“

Die Folgen sind gravierend für die Unterschicht: psychische Erkrankungen, gesundheitliche Anfälligkeit, eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. In den USA leben Weiße mit hoher Schulbildung durchschnittlich zwölf Jahre länger als Schwarze mit geringen Schulkenntnissen. Und während sich in England in den vergangenen drei Jahrzehnten die Wirtschaftsleistung verdreifachte, hat sich zugleich die Anzahl der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können, von 14 Prozent auf 33 Prozent erhöht.

Bei 4200 Euro netto im Monat muss Schluss sein!

Aber Ungleichheit schadet auch der Gesellschaft als Ganzes: Sie schwächt den sozialen Zusammenhalt, segregiert die Bevölkerung und befördert „soziale Schließungen“. Besonders beunruhigend sei „die klassenspezifische Exklusion von politischer Beteiligung“, hat der Politologe Wolfgang Merkel einmal geschrieben: Wohin das führt, hat Deutschland, haben Europa und die USA in den vergangenen Jahren erlebt: Viele Menschen, die sich von „denen da oben“ verraten fühlen, sind aus der politischen Partizipation aus- und ins populistische Protestgewerbe eingestiegen.

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Viertens schließlich: Anstrengungslos sich vermehrendes, auch dynastisch vererbbares Kapitalvermögen untergräbt das Fundament jeder bürgerlichen Marktgesellschaft, indem es die Honorierung von Leistung außer Kraft setzt: das meritokratische Prinzip, das Liberalen seit 200 Jahren als Legitimitätsgrund von Ungleichheit dient. Seit den Forschungen von Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) bezweifelt niemand ernsthaft mehr, dass Arbeitnehmereinkommen hinter Kapitaleinkünften zurückbleiben und dass deshalb der „Umschlag von einer Leistungs- in eine Besitzgesellschaft“ droht, so der Soziologe Steffen Mau.

Anders gesagt: Der Boden ist glänzend bereitet für eine ideologieferne Vertiefung der Debatte über Fragen von Reichtum und Armut, Gerechtigkeit und Unfreiheit. Die ideologischen Links-Rechts-Gräben in der Wirtschaftspolitik sind zugeschüttet. Die Ökonomen liefern uns recht belastbares Datenmaterial. Soziologen versorgen uns mit einleuchtenden Stimmungsbildern. Und mit dem theoretischen Rüstzeug für Gerechtigkeitsfragen haben uns so unterschiedliche Autoren wie John Rawls und Amartya Sen, Charles Taylor oder auch Judith Shklar längst ausgestattet.

Und dann kommt Christian Neuhäuser und behauptet: Reichtum ist unmoralisch. Wer zu viel Geld besitzt, verletze die Würde seiner Mitmenschen, argumentiert der Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund. Das ist starker Tobak, zumal Neuhäuser im gleichen Atemzug fordert, dass er unter schädlichem Reichtum ein Einkommen versteht, das über 4200 Euro netto liegt - und noch dazu selbstsicher meint, seine „nichtideale Gerechtigkeitstheorie“ sei realitätsbezogener als die Arbeiten und Überlegungen aller anderen Gerechtigkeitstheoretiker.

Um es vorwegzunehmen: Sie ist es nicht. Dabei ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen durchaus vernünftig. So genannte Suffizienztheorien definieren eine Untergrenze von Gütern und Fähigkeiten, die einem Menschen zugestanden werden müssen und die er benötigt, um seine materiellen und sozialen Grundbedürfnisse decken zu können (Sen). So genannte Differenztheorien stellen den Grundsatz in den Vordergrund, dass alle gesellschaftliche Veränderung zum Ziel haben muss, das Los der Schlechtgestellten zu verbessern (Rawls). Und in so genannten egalitaristischen Theorien (liberaler oder linksliberaler Provenienz) geht es immer um die Herstellung einer bestimmten Form von Gleichheit, sei es der Ausgangsbedingungen oder der Ergebnisse. Demgegenüber möchte Neuhäuser eine „Grenztheorie der Gerechtigkeit“ abliefern, die vor allem historisch informiert ist und im Gegenwartspolitischen wurzelt, die weder bei der Armutsproblematik ansetzt noch beim Thema einer (notwendig relationalen) Ungleichheit. Sondern die den Reichtum selbst zum Thema hat und moralisch kritisiert.

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