Tauchsieder

Die Freiheit nehm' ich mir?

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Welche Freiheiten schaden, welche wollen wir dennoch dulden?

Zur Erinnerung: Der Eigentumsbegriff der Liberalen geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Er ist damals, verstanden als Produkt persönlicher Anstrengung und finanzielle Ressource, mit emanzipatorischen und demokratischen Energien aufgeladen, denn im Gegensatz zum parasitären Adel, der vom jährlichen Ertrag seiner Ländereien zehrt, entsteht das bürgerliche Eigentum aus Arbeit und Eigenleistung – eine Entwicklung von epochaler Bedeutung, für die Kommunisten und Sozialisten bis heute blind sind. Aber natürlich ist die bürgerliche Marktgesellschaft im Zuge ihrer Formierung auch  an der Sicherung ihrer Besitzstände interessiert.

John Locke schreibt 1690: „Obwohl die Erde... allen Menschen gemeinsam gehört, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind... im eigentlichen Sinn sein Eigentum.“ So weit, so emanzipatorisch. Doch dann geht es weiter: „Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat“, ist „das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters“ und „niemand außer ihm“ hat ein Recht darauf – solange „ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt“.

Lockes Eigentumsbegriff ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Er erzählt noch nichts von einem lohnabhängigen Proletariat, das kein „Eigentum“ am Ertrag seiner Arbeit haben wird. Er rechtfertigt allein die Erstaneignung, also die persönliche Inbesitznahme – und sagt nichts aus über die Vererbung von Eigentum. Vor allem aber geht Locke – 160 Jahre bevor die „frontier„ in der Neuen Welt den Mississippi erreicht – noch von unbegrenzten Ressourcen aus, von Ländereien, die im Überfluss vorhanden sind und nur darauf warten, vom Menschen untertan gemacht zu werden: Was immer der Mensch damals in sein Eigentum überführt – den anderen verbleibt noch genug. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht mal ansatzweise durchblicken lassen, dass er auf die Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten Gemeingütern (Wald, Wasser, Öl, Klima) eine Antwort weiß. Erst seit auch Asien lautstark Besitzansprüche anmeldet, beherzt auf Rohstoffe zugreift und Kohlendioxid emittiert, reift rund um den Globus die Einsicht, die Erde selbst sei der „Menschheit“ Eigentum – und damit auch auch derer, die sie von der Gegenwartsgeneration erben. 

Beim Klimaschutz verschiebt das Bundesverfassungsgericht die Gewichte: Die Jüngeren werden ungerechtfertigt in ihrer Freiheit beschnitten, urteilt es – durch zu laxe Ziele des Staates. Das ändert alles.
von Cordula Tutt

Segensreiche Folgen hat das womöglich auch für den Freiheitsbegriff der Liberalen. Seine klassische Definition stammt bekanntlich von John Stuart Mill (1859) und „lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit... sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten“. Mill ging es damals darum, jeder noch so wohlmeinenden  Fürsorge einer Regierung möglichst enge Grenzen zu setzen. Er fürchtete um die Freiheitsfähigkeit mündiger Bürger im Schoße eines Nanny-Staates und den Verlust ihrer Tugendhaftigkeit, weil er bezweifelte, „dass mit kleinen Menschen... große Dinge vollbracht werden können“.

Eben deshalb ist Mills Freiheitsbegriff aber auch eng verknüpft mit dem Prinzip der Selbstverantwortung, der Inbesitznahme seiner persönlichen Freiheit: Mills Freiheit hat eine qualitative Dimension und kann im Anschluss an Charles Taylor als „Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben“ verstanden werden: Sie ist nicht einfach vorhanden und gleichsam frei verfügbar, sondern eine „Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben“. Sie besteht eben nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen.



Natürlich, die „Schädigung anderer“, die nach Mill die Grenze der Freiheit bezeichnet, kann von Aktivisten heute mühelos und aus jedem noch so geringfügigen Anlass nachgewiesen werden: Der Verzehr einer Avocado geht eben nicht mehr nur auf Kosten der Lebensqualität eines Plantagenarbeiters in Peru, sondern schädigt womöglich auch die Lebensgrundlagen unserer nichtgeborenen Enkel. Die anspruchsvolle Aufgabe des Liberalismus bestünde nun darin, eine qualitative Bestimmung vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden, welche wollen wir dennoch dulden – und welche sollen unantastbar sein? Genau dazu ruft das Bundesverfassungsgericht auf – nicht nur die Politik, sondern die Gesellschaft insgesamt: Wir sollen uns über den Unterschied informieren, den es für uns und unsere Nachfahren macht, etwa einen 15-Liter-SUV, einen Drei-Liter-Polo oder ein E-Auto zu fahren. Einerseits. Andererseits geht es immer auch auch darum, die Freiheit derer zu schützen, die nicht immer nur Kürbis vom Bio-Bauern nebenan essen wollen, sondern auch mal eine Flugananas – und sei diese Wahl noch so vernunftfrei. Man kann und muss das Urteil der Verfassungsrichter auch so lesen, dass es künftigen Generationen die vernunftferne Freiheit zur Flugananas erhalten will. Denn dabei bleibt es: Jede Einschränkung der individuellen Freiheit (heute) muss gut begründet werden. Und nicht jede Freiheit, die man sich dennoch nimmt, darf mit dem Hinweis auf einen „Klimanotstand“ unter Verdacht gestellt werden, andere zu schädigen.

Aber zur Sicherung der Freiheit und Marktwirtschaft in der Moderne gehört heute eben auch ein Eigentumsbegriff, der auf Erhaltung statt Expansion, auf Sicherung statt Säumigkeit und auf Verantwortung statt Vergeudung setzt, sprich: eine Ordnungspolitik, die uns befähigt, unsere Freiheit dauerhaft, sinnvoll und generationenübergreifend ausüben zu können. Daher sind vom Karlsruher Urteil übrigens auch Themen wie Geldexpansion und Schuldenbewirtschaftung, Bildungsgerechtigkeit und Pensionsansprüche erfasst: Die Richter rufen die Politik auch ganz allgemein dazu auf, nicht mehr durch Tatenlosigkeit „Systemrisiken“ zu erzeugen, die politische „Alternativlosigkeiten“ zur Folge haben – und unseren Nachkommen die Freiheit zu erhalten, sie wahrnehmen zu können.

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