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Quelle: dpa

Wer wird Kanzler?

Das Regierungsrennen ist zwölf Monate vor der Bundestagswahl erstaunlich offen. Wer in der Union kann es mit Olaf Scholz aufnehmen? Auf wen bauen die Grünen? Wie will die FDP fünf Prozent erreichen?

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Fünf Wochen. Hätte das Coronavirus Deutschland auch nur fünf Wochen früher erreicht – wäre CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer heute auch noch designierte CDU-Chefin und mutmaßliche Nachfolgerin von Kanzlerin Angela Merkel? Müßige Frage. Aber mit Blick auf die Schnelllebigkeit und Volatilität des Politik- und Nachrichtengeschäfts gewiss auch eine interessante Frage. Denn sie wirft eine zweite auf: Kann es sein, dass den Deutschen die Besetzung des politischen Spitzenpostens inzwischen vollkommen egal ist?

Kramp-Karrenbauer hat am zehnten Februar angekündigt, sie stelle ihr Amt an der Spitze der großen Unionspartei zur Verfügung. Die Union erzielte damals in Umfragen 27 Prozent. Die CDU-Fraktion in Thüringen hatte gerade mit Zustimmung der Björn-Höcke-AfD einen FDP-Politiker zum Regierungschef gekürt, um den Linken Bodo Ramelow als Ministerpräsident zu verhindern. Es war das desaströse Ergebnis eines jahrelangen strategischen Versagens der Parteiführung und des „bürgerlichen Lagers“.

Ein paar Tage lang rang die CDU damals um eine einvernehmliche Teamlösung. Dann war klar: Armin Laschet zieht mit Jens Spahn gegen Friedrich Merz und Norbert Röttgen ins Kandidatenrennen. Am 25. April sollte der neue Parteichef gewählt werden. Der politisch interessierte Teil des Landes fieberte spannenden Wochen entgegen, richtete sich auf hitzige Debatten und Abrechnungen ein, auf Kurskorrekturen und genüssliche Sticheleien. Endlich würde sich wieder was bewegen in der Union, würde sich die paralysierte Partei wieder politisch aufladen, würde die CDU den normativen Nullanspruch der Merkel-Jahre beerdigen: „Aufgaben gibt es genug“, so Laschet damals: „Vor uns liegen die Zwanzigerjahre...“

Sechs Monate. So lange ist das jetzt schon her. Gefühlt eine halbe Ewigkeit. Die Coronapandemie hat das Land in einen parteipolitischen Tiefschlaf versetzt, es befriedet, fast schon sediert – die Ausnahme der 40.000 Berlin-Touristen, die vor zwei Wochen an der Seite von Rechtspopulisten ihr schwach ausgebildetes Verständnis von Freiheit lautstark zu Markte trugen, widerlegt den Befund nicht, sondern bestätigt ihn. Die Union sammelt in Umfragen bis 38 Prozent Zustimmung ein. Sogar die Esken-Walter-Borjans-SPD erholt sich leicht. Während die AfD sich selbst zerlegt und schwächelt.

Die meisten Deutschen vertrauen der Exekutive. Sie sind einverstanden mit dem Krisenmanagement der Regierenden und staunen über die vielen Wumms-Milliarden, sie genießen die letzten Spätsommertage – und erfahren jeden Abend in den Fernsehnachrichten, was die „Einschränkung von Freiheitsrechten“ wirklich bedeutet, in Hongkong, Urumqi, Moskau und Minsk. Die meisten Deutschen wollen das verordnete Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in Bussen und Bahnen daher auch partout nicht als Generalangriff auf ihre Selbstbestimmung werten. Sie sind wirtschaftlich gut abgesichert und hoffen auf eine v-förmige Erholung der Wirtschaft. Sie sorgen sich ein wenig mit Blick auf den Herbst und die Grippesaison und sind im Übrigen froh, ausgerechnet hier und heute zu leben.

Zwölf Monate. So lange regiert uns Angela Merkel noch, dann ist Schluss. Aber wen interessiert schon noch, wer ihr nachfolgt, wer nächstes Jahr Kanzler wird? Vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle noch einen engagierten Nachruf auf die Große Koalition geschrieben, die Regierung zur Einstellung ihrer Arbeit aufgefordert: „Die Kanzlerin hat dem Land nichts mehr zu geben... Sie erzeugt ein politisches Vakuum, trocknet alle Zuversicht aus... (Ihr) kommt es nicht auf… ein Feuerwerk starker Argumente an, sondern auf... passive Zustimmung, ... auf ein träges, möglichst gleichgültiges „Like“, sprich: Kreuzchen ihrer Wähler... Die Merkel-CDU ist geradezu definiert als Partei, die dem Primat der Demoskopie allen geschichtlichen Sinn opfert – die... sich dem lauen Zeitgeist unterwirft. Das Vertrauen der Deutschen in „Berlin“ ist in den vergangenen (...) Jahren nicht gewachsen, sondern dramatisch gesunken. Obwohl das Land so wenig Arbeitslose zählt wie lange nicht. So viele Beschäftigte zählt wie nie zuvor. Was für ein Kunststück.“

Viele Fragen sind offen

Heute wirkt der Abgesang fast schon überspannt. Ließe sich Angela Merkel zu einer weiteren Amtszeit überreden – die Deutschen würden sie wohl einmal mehr wählen. Obwohl die meisten Herausforderungen unbearbeitet geblieben sind, sich die Liste der Aufgaben verlängert hat. Die Automobilindustrie muss eine Transformation meistern – Ausgang ungewiss. Die deutsche Exportwirtschaft droht im Handelskrieg und Systemkonflikt zwischen den USA und China aufgerieben zu werden – Ende offen. Das europäische Modell einer eher kleinteiligen Markt- und Konkurrenzwirtschaft muss sich gegenüber dem amerikanischen Venturekapitalismus und dem chinesischen Staatskapitalismus behaupten – nur wie? Industrie 4.0, Wasserstoff, E-Auto, KI-Strategie. Klimaziele, Kohleausstieg, Green Growth und emissionsfreie Städte. Eine europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik und die große Staatsschuldenfrage. Eine Investitions- und Bildungsoffensive sowie digitalisierte Exzellenzunternehmen aus München, Mailand und Madrid...- wie sagte Armin Laschet so schön: „Vor uns liegen die Zwanzigerjahre...“

Mit Friedrich Merz an der Spitze? Kaum. Im Moment spricht alles gegen ihn. Keine exekutive Macht. Keine AfD-Wähler, die er zurückgewinnen müsste. Die Einführung einer Frauenquote hält er für lässlich. Die Wirtschaftspolitik, die er repräsentiert, ist buchstäblich von gestern. Steuern runter. Sparen. Schwarze Null. Und das heißt: Kürte die CDU Friedrich Merz, würden vor allem im Willy-Brandt-Haus die Sektkorken knallen. SPD-Kandidat Olaf Scholz und seine Lieblingsökonomen kennen (vorerst) keine Budgetrestriktionen mehr. Der Staat kann sich, zumal in Nullzinszeiten, praktisch unbegrenzt verschulden, so das Credo; er muss sich nicht mehr fragen: Was kann ich mir leisten? Sondern nur noch: Was will ich mir leisten? Und weiß Gott, darauf Antworten zu finden, das fällt Sozialdemokraten immer leicht.

Norbert Röttgen? War Bundesminister. Und ist ein sehr profilierter Außenpolitiker, der Woche für Woche an Statur und Sichtbarkeit gewinnt. Er profitiert mit wertkonservativer Klarheit von der Rückkehr weltanschaulicher Grundsatzfragen (Huawei, Nawalny, Hongkong) – und stünde jederzeit für die bereits angestoßenen schwarz-grünen Allianzprojekte in Deutschland und Europa ein (Green New Deal). Er könnte den Deutschen mit seiner eigenen Schmidthaftigkeit gefallen und Scholz in Schach halten. Allein die CDU hat noch nie wirklich Gefallen an ihm gefunden.



Armin Laschet also? Nicht ausgeschlossen, dass die Union ihn vor dem Parteitag im Dezember an seinen Vorschlag für eine Teamlösung erinnert – und doch noch Jens Spahn aufs Podest hebt. Nicht, weil es Laschet an Substanz mangelte. Wohl aber, weil er sie nicht verkörpert und gegen einen hanseatisch-bürgerlich-schmidthaft-staatsmännischen Scholz im Wahlkampf etwas schwachbrüstig erscheinen könnte. Spahn also – oder Markus Söder? Jeder Kandidat wird es, einmal zum Kandidaten erhoben, auch mit Merkel aufnehmen, sich an ihr messen lassen müssen – was die Union leicht ein paar Prozentpunkte in Umfragen kosten dürfte. Fest steht: Dem bayerischen Ministerpräsidenten, bei dem die Grenzen zwischen Opportunität und Opportunismus jederzeit fließend sind, scheinen derzeit die meisten Deutschen die Regierungsgeschäfte anvertrauen zu wollen. Aber die meisten Deutschen sind nicht die meisten in der Union. Auch war das Land noch nie bereit für einen Kanzler der CSU.

Olaf Scholz hat in den nächsten zwölf Monaten vor allem zwei Dinge zu erledigen: Er wird eine Koalition mit der Linken (und den Grünen) ausschließen müssen ohne sie explizit auszuschließen – und er wird seinen intellektuellen Hochmut zügeln müssen. Arroganz ist kein Ausschlusskriterium für einen Kandidaten. Aber in den CumEx- und Wirecard-Befragungen personifizierte er zuletzt die Arroganz der Macht. Und das dürfte den Deutschen nicht gefallen. So gesehen ist seine Vizekanzlerschaft eine Bürde.


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Schließlich die Grünen. Auch für sie gibt es zwei Fragen zu klären. Erstens: Ein eigener Kanzlerkandidat oder nicht? Zweitens: Annalena Baerbock oder Robert Habeck? Die Antworten fallen nicht leicht aus. Entsagen die Grünen von vornherein der Kanzlermacht, könnte das die Olaf-Scholz-SPD stärken: Bundestagswahlen sind auch Personenwahlen. Andererseits wäre es möglich, dass die Grünen eben davon profitieren; viele Deutsche wünschen sich die Grünen als starke zweite Kraft – aber nicht am Ruder. Mit Kanzlerkandidat Habeck könnte die Partei daher, wenn alles schlecht läuft, bei 13 Prozent landen. Mit Spitzenkandidatin Baerbock bei 23 Prozent. Könnte, wohlgemerkt. Vielleicht aber auch umgekehrt.

Und die Lindner-FDP? Vorerst nicht der Rede wert. Sie hat 2017 nicht mit Schwarzen und Grünen regieren wollen – und will jetzt Stimmen einsammeln für eine Junior-Junior-Partnerschaft mit Roten und Grünen. Das ist, mit Verlaub, keine attraktive Perspektive, sondern ein Treppenwitz der jüngeren Parteigeschichte. Der einzige Vorteil der Liberalen: Sie haben am wenigsten zu verlieren. Wieder einmal. Nur wüsste man gerne, was man mit ihnen noch gewinnen kann. Denn wie gesagt: „Vor uns liegen die Zwanzigerjahre...“

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