Tauchsieder

Zurück zur Kanzlerpartei SPD

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Willy Brandt war nicht das Produkt sozialdemokratischer Politik

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die SPD 14 lange Jahre gebraucht, um den Deutschen als denkbare Alternative zur Konrad-Adenauer-Union überhaupt in den Sinn zu kommen. Erst als die Sozialdemokratie im Godesberger Programm dem Klassenkampf und der Planwirtschaft entsagte und ihren Frieden schloss mit Marktwirtschaft und Westbindung, war sie im politischen Machtrennen – oder schärfer formuliert: Erst als die SPD die „herrschenden Verhältnisse“ nicht mehr im Wege des „demokratischen Sozialismus“ überwinden wollte, sondern mithilfe der „Globalsteuerung“ in Höchstform zu bringen versprach, kam sie einer Mehrheit der Deutschen nicht mehr verdächtig vor.

Trotzdem hat es noch mal zehn Jahre gedauert, bis die SPD auch das Vertrauen der Deutschen gewinnen konnte – und zum ersten Mal den Kanzler stellte. Doch schon Willy Brandt war nicht das Produkt einer genuin sozialdemokratischen Politik, sondern (mindestens auch) das Ergebnis einer günstigen Konstellation: Die Deutschen gönnten sich eine SPD-geführte Regierung und meinten, sie sich leisten zu können. Erstens, weil die Arbeitslosigkeit besiegt schien. Zweitens, weil die „Ostpolitik“ dank der unumkehrbaren Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis möglich war. Und drittens, weil die Bürger sich nach dem ökonomischen Erfolg auch einen kulturellen Aufbruch zutrauten.

In den Jahren darauf, unter Helmut Schmidt, stand die SPD im Zenit ihrer Macht, weil der Staat von der Substanz zehren, aus dem Vollen schöpfen und verteilen konnte, was die Deutschen sich erarbeitet hatten: Vollbeschäftigung, Acht-Stunden-Tag, „Samstag gehört Papi mir“. Aber was die Partei schon damals nicht begriff: Der zum Arbeitnehmer und Wohlstandsbürger beförderte Arbeiter wählte vielleicht noch die SPD, aber er bedurfte ihrer nicht mehr. Bereits im Herbst 1973, im Jahr der Ölkrise, kündigte sich der Niedergang der Sozialdemokratie an: Die keynesianischen Boom-Jahre waren vorbei, das Vertrauen in die Planungsfähigkeit des Staats war erschüttert – und das traditionelle „Vorwärts“ der SPD büßte mit den „Grenzen des Wachstums“ seinen Zauber ein.

Die SPD hat diesen Zauber nie wieder herstellen können. Sie war groß geworden als Partei des Fortschritts und der Weltverbesserung, des langen, steinigen Weges „zur Sonne, zur Freiheit“. Sie hatte sich das Fernziel einer neuen, besseren Gesellschaft auf die roten Fahnen geschrieben und an das aufklärerische Ideal einer Vervollkommnung der Lebensverhältnisse angeknüpft. Sie war mit den Menschen, den Zukurzgekommenen zumal, „Seit' an Seit'“ einer immer besseren Zukunft entgegen gestrebt – und sie verdankte ihre Macht nun ausgerechnet einem Mann, der gesellschaftspolitische Visionen unter Pathologieverdacht stellte: Helmut Schmidt.

Seither kann die SPD paradoxerweise nur noch dann den Kanzler stellen, wenn er sich gegen das auflehnt, was eine Mehrheit in der Partei für richtig hält – und wenn viele „bürgerliche“ Wähler zugleich der Auffassung sind: „Das ist ein guter Regierungschef, wenn auch leider in der falschen Partei.“ Helmut Schmidt bezog seine Macht vor allem aus der Standfestigkeit, mit der er den Friedensbewegten widerstand. Und Gerhard Schröder sicherte sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern durch die Konsequenz, mit der er vor gut 15 Jahren angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen seine Sozialreformen durchboxte. Kurzum: Schmidt und Schröder haben sich nicht als standfeste Genossen Ansehen bei den Deutschen erworben, sondern als geläuterte Sozialdemokraten: gegen die Partei-Programmatik.

Tatsächlich war es ironischerweise Margaret Thatcher, die der Sozialdemokratie in den Achtzigerjahren einen „Dritten Weg“ aus der programmatischen Sackgasse wies. Die liberalkonservative britische Premierministerin animierte über Tony Blairs „New Labour“ auch die Schröder-SPD zu einem Update ihres Fortschrittsbegriffs. Ziel war eine Balance zwischen bastardliberaler Marktverheiligung und ordnungspolitischer Wirtschaftssteuerung, zwischen forderndem Leistungsdenken und fördernden Hilfen des Sozialstaates.

Das Problem: Schröder schoss mit seinem Reformeifer übers Ziel hinaus. Er passte die Sozialdemokratie nicht (nur) veränderten Bedingungen an, sondern lieferte sie (auch) einer „alternativlosen“ Globalisierung aus. Er ließ den deutschen Arbeiter als Dienstleistungsproletarier links liegen und rollte den Geldinteressen einen roten Steuersenkungsteppich aus. Als dann die Finanzkrise hereinbrach, hatten sich die Marktgläubigen in Union und FDP  bloß geirrt – die  SPD aber hatte ihre Seele verkauft. Seither ist es Angela Merkel ein stilles Vergnügen, mit Hilfe der SPD  an Schröders Reformen soziale Korrekturen vorzunehmen.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma kann es für die SPD nur geben, wenn sie sich den Wählern, wie mit Schmidt und Schröder, erneut als bessere Union empfiehlt – wenn sie aufhört, immer neue Opfergruppen zu erfinden, um sie als Ziel ihrer politischen Zuwendung zu bewirtschaften und sich stattdessen allen Deutschen andient – etwa mit einem Programm für eine „solidarische Leistungsgesellschaft“, die schon Alt-Vordenker Erhard Eppler im Sinn hatte. Dabei müsste die SPD beide Pole des Begriffs unter Starkstrom setzen – und aus der daraus entstehenden Spannung einen ambitionierten Fortschrittsbegriff gewinnen: einerseits aus scharfer Kritik an der überragenden Bedeutung von Kapitalinteressen, an Machtkonzentration und sozialer Ungleichheit – andererseits aus scharfer Kritik an das anspruchslose Anspruchsdenken derer, die die „Stallfütterung des Staates“ (Wilhelm Röpke) mit intelligenter Sozialpolitik verwechseln.

Allein als „bürgerliche“ Partei einer „guten Gesellschaft“ der Tüchtigen hat die SPD in Deutschland eine Chance, ob mit Olaf Scholz an der Spitze oder ohne – und gar keine schlechte, sollte sich in der Union tatsächlich niemand finden, der die CDU-Vorsitzende doch noch von ihrem Rückzug überzeugen kann.

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