Tauchsieder

Lesen wird überschätzt

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Zeit der großen Bücher ist unwiderruflich vorbei

Dass die Gegenwart durch die schiere Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts schrumpft und den heutigen Generationen mehr denn je die Möglichkeit raubt, sich den Horizont ihrer Eltern (geschweige denn: ihrer Großeltern) überhaupt noch zu vergegenwärtigen. Dass wir einem Zeitalter entgegen eilen, in dem wir jederzeit verbunden sein werden mit der Gegenwart, aber zunehmend abgeschnitten vom kulturellen Erbe der Menschheit. Dass wir unbegrenzten Zugang zu allem und zu jedem haben werden, aber nicht mehr im Gespräch mit Autoren, Büchern und Texten der Vergangenheit.

Das schöne Buch

Und was ist mit der Zukunft? Nun, auch die droht im Meer der Gegenwartsinformation zu ertrinken. Der New Yorker Medientheoretiker Douglas Rushkoff hat den Trend zuletzt auf den schönen Begriff (und Buchtitel) "Present Shock" gebracht: Die Zukunft spiele ganz einfach deshalb keine Rolle mehr, weil wir sie vor lauter Gegenwart nicht mehr bemerken. Die meisten Leser seines neues Werkes etwa, da ist sich Rushkoff sicher, werden es - sei es druckfrisch, sei es digitalisiert - allenfalls noch quer oder auszugsweise lesen, vielleicht sogar seine Hauptaussage zur Kenntnis nehmen, sich vor allem aber ganz schnell wieder anderen Informations- und Unterhaltungsquellen zuwenden. Der Grund dafür ist weniger, dass das geschriebene Wort sich vom Trägermedium Buch löst. Auch nicht, dass es auf dem Tablet-Computer in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen Informations- und Unterhaltungsangeboten steht, die mit ihm um die Aufmerksamkeit des Medienkonsumenten ringen. Sondern der Grund ist vor allem, dass es keine allgemeine Verbindlichkeit von Information mehr gibt, kein Empfinden für einen Fortschritt, der unsere Erfahrungen, der unser Denken, der unser Tun bündelt.

Die Zeit der "großen Bücher" etwa ist unwiderruflich vorbei. Kein noch so gescheites Werk eines Dichters oder Denkers ist heute noch so obligat wie ehedem der neue Grass, so definitiv wie ein Habermas. Anders gesagt: Ein Buch ist heute exakt das, was seine Leser zu nichts mehr verbindet. Es verharkt sich bestenfalls noch als Stichwort im kollektiven Gedächtnis ("Das Ende der Geschichte", "Postdemokratie", "Die Schlafwandler" etc.), aber meist nicht mal das. Mit dem Ergebnis, dass die meisten Textschaffenden sich keine "Leserschaft" mehr aufbauen, sondern auf möglichst kurzem Wege ihre Peer Groups erreichen wollen. Daher der Trend im Sachbuchbereich zu kurzen, im Pamphlet-Stil geschriebenen Texten. Daher die gut verdaulichen 256-Seiter in der Belletristik. Daher auch kein Kinderbuch mehr, aus dem sich nicht zugleich eine Serie, ein Videospiel und ein Kinofilm machen ließen.

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