Tauchsieder
Beschauliche Hafenszene Quelle: imago images

Zunehmendes Heimweh

Horst seehofert mal wieder: Die Migrationsfrage sei die „Mutter aller politischen Probleme“. Dabei hat der Aufschwung der AfD viel mit der Heimatvergessenheit der Wirtschafts- und Globalisierungselite zu tun.

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Horst Seehofer (CSU) mal wieder. Übles Foul an Bundestrainerin Angela Merkel (CDU), man hat sich mittlerweile daran gewöhnt: Der Mann bettelt förmlich um den Platzverweis. Warum nur nimmt niemand in der Union ihn endlich aus dem Spiel? Warum nur verlässt die SPD nicht endlich den Platz? „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme“, sagt der Bundesinnenminister in einem Interview mit der „Rheinischen Post“: Mutter, Mutti, Merkel - kurzschlüssiger geht es nicht. Und abgesehen davon - nicht rachpolitisch, sondern sachpolitisch - ist es noch schlimmer: Wenn er „nicht Minister wäre“, so Seehofer über Seehofer, wäre er in Chemnitz „als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen - natürlich nicht gemeinsam mit den Radikalen“.

Es lohnt sich durchaus, Seehofers Worte sprachlich und semantisch ein wenig zu dekonstruieren, denn an jedem seiner beiden Sätze ist so ziemlich alles falsch: Sie sind infantil und irreführend – und für einen Innenminister skandalös.

Zunächst einmal: Seehofer tut so, als glaubten die Deutschen noch an eine Art „unbewegten Beweger“, einen Schöpfergott, von dem man annimmt, er sei der Ursprung allen Seins (wie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein) - mit dem Unterschied, dass Seehofer diesen Schöpfergott gut manichäisch zum Satan umdeutet - und die Kanzlerin als eine Art Mephisto-Merkel einführt, die im Unterschied zur „Faust“-Figur stets das Gute will und stets das Böse schafft.

Das wäre fast schon rührend kindlich, wenn Seehofer damit nicht zugleich eine Täuschungsabsicht verfolgte. Denn sein Satz ist nicht nur politisch als Variation des AfD-Schlagers „Merkel muss weg“ zu verstehen - er insinuiert auch erlösungsreligiös, dass ein Sturz der Kanzlerin nicht nur verdient wäre, sondern allein Basis und Voraussetzung für einen reinigenden Neuanfang sein könne. Offenbar begreift Seehofer die gegenwärtige Krise als eine Periode, in der der kairos zugegen ist, der epochemachende Moment, der allen Anomien ein Ende bereitet (mit Seehofer selbst in der Rolle des waltenden Weltgeistes, versteht sich, der dem kairos auf die Sprünge hilft)… - wer noch anno 2018 an Katharsis und Erweckungskitsch glaubt, wird vielleicht selig, aber gewiss kein Citoyen mehr.

Natürlich darf man auch heute noch vereinfachend von politischen (Ur-)Ursachen sprechen. Aber eben nicht so, wie zuletzt auch der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki, der „die Wurzeln für die Ausschreitungen“ in Chemnitz „im ‚Wir schaffen das’ von Kanzlerin Angela Merkel“ sah: Wer als Politiker (und Journalist) seinen Aussagen (mono-)kausale Sinnrichtungen verleiht und dabei das Ensemble konsekutiver, konzessiver und modaler Bezüge ausblendet - also alles, was „gleichzeitig“, „trotzdem“ und „durch weitere Umstände bedingt“ außerdem der Fall ist - belebt das Geschäft der Rechtspopulisten.

Nicht zuletzt, indem rhetorische Leichtmatrosen wie Seehofer und Kubicki absichtlich den Kern dessen umwölken, was sich leicht sagen und nachweisen ließe: „Der Aufstieg der AfD lässt sich ohne die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht sinnvoll erklären.“ Erstens ist der temporale Zusammenhang dieses Satzes offensichtlich (auch wenn er die Euro-Rettungspolitik als „Gründungsthema“ der AfD unterschlägt). Zweitens umfasst das Wort „Flüchtlingspolitik“ ein Set von Gründen: die Grenzöffnung, der Kontrollverlust des Staates, der Optimismuszwang des Kanzleramtes, die Türkei-Politik, die schleppende Bearbeitung der Asylanträge, die mangelhafte Abschiebungspraxis, die unzureichende Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt usw. Warum also sagen Seehofer und Kubicki diesen Satz nicht? Weil es in einem solchen Satz um das Sammeln und Ordnen vieldeutiger Argumente, nicht um die Eindeutigkeit von Bezichtigungen und Schuldzuweisungen geht - um die Öffnung von politischen Perspektiven, nicht um deren Schließung.

Dass in Horst Seehofer (CSU) ein Minister des Inneren an der Komplexität von Problemlagen in Deutschland kein Interesse zeigt, ist beschämend. Dass er sich aber als „besorgter Bürger“ auch noch veranlasst sähe, demonstrierend gegen die Ermittlungsarbeit der Polizei aufzustehen, deren Bundeseinheiten er als Innenminister vorsteht, ist, mit Verlaub, nur noch gaga.

„Die Gesellschaft der Ichlinge“

Mit welchem Plakat würde Bürger Seehofer wohl auf die Straße ziehen? Tatsächlich kann es so kurz nach der Straftat (und der Verhaftung von Verdächtigen) nur zwei Gründe gegeben haben: 1. „Alle Mörder hinter Gitter!“ - eine triviale Forderung, denn dafür sorgt ja nach Kräften der Rechtssaat. 2. „Alle ausländischen Mörder hinter Gitter!“ - keine triviale Forderung, weil der Rechtsstaat nicht nur bestimmte Mörder verfolgt, sondern alle Mörder.

Anders gesagt: Der Protest in Chemnitz richtete sich entweder gegen angenommene Unzulänglichkeiten des Rechtsstaates (sprich: auch gegen Seehofer) oder aber gegen kriminelle Ausländer (sprich: war fremdenfeindlich grundiert). Und wegen einer dieser beiden Gründe würde Seehofer als Bürger tatsächlich auf die Straße gehen? Zur Strafe sollte er als Innenminister in allen Interviews der nächsten beiden Jahre einleitend drei Fragen beantworten: 1. „Wogegen genau wären Sie in Chemnitz auf die Straße gegangen?“ 2. „Gibt es einen Unterschied zwischen guten und schlechten Morden?“ 3. „Gegen welche der rund 400 Morde jährlich in Deutschland planen Sie in Zukunft, als ‚besorgter Bürger‘ zu demonstrieren?“

Zurück zur „Mutter aller politische Probleme“. Wenn es einen Elementargrund für „politische Probleme“ gibt, lieber Herr Seehofer, dann sind das in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens: Krieg, Korruption, politische Unterdrückung, Armut und Perspektivlosigkeit - und in vielen Ländern Europas: zum Beispiel die wachsende Ungleichheit und das Flüchtlingsproblem der Superreichen, verbreitete Gefühle der Entkopplung und Exklusion, der mangelnden Teilhabe, aber auch „immer kurzlebigere Arbeitsverhältnisse, die Entgrenzung von Arbeitszeit und freier Zeit mittels neuer Technologien, ... der Anstieg der Mietpreise und die Verknappung des Wohnraums..., die gleichzeitige Entleerung und Verödung ländlicher Räume,..., die prekäre Situation der Europäischen Union und der Eurozone“ - so Horst Seehofer Ende April in einem Beitrag für die „FAZ".

Man mag es kaum glauben, aber vor vier Monaten war Seehofer tatsächlich noch überzeugt davon, nicht Angela Merkel oder die Migrationsfrage, sondern „das Projekt der Globalisierung“ sei das „überragende politische Problem der kleinen Leute“. Schließlich stünden „den immensen wirtschaftlichen Vorteilen einiger weniger ... tägliche Verunsicherungen und Ängste von Millionen von der Globalisierung Betroffener gegenüber“.
Dieser Text ist gar nicht schlecht - und in mindestens zweierlei Hinsicht interessant. Erstens liest er sich passagenweise wie ein ex-ante-Bitte Seehofers um Aufnahme in Sahra Wagenknechts neue Linksbewegung #aufstehen: Seehofer schlägt einen sozial-nationalen Kümmerer-Ton mit kapitalismuskritischen Untertönen an - und stellt den „Entgrenzungen“ der Wirtschaftswelt und ihrem „ungeheuren Veränderungstempo“, der „Gesellschaft der Ichlinge“ und der „Marktgläubigkeit“ eines „ökonomisierten Denkens“ das Bedürfnis nach Gemeinschaft und kultureller Identität entgegen, das Verlangen nach Zusammenhalt und Zugehörigkeit, nach Tradition und Bewahrung, nach Ortsgebundenheit und Orientierung - kurz: nach „Heimat“. Im Grunde genommen - und auf abgeflachteren Wegen - gelangt Seehofer dabei zu der Einsicht, die der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski* uns bereits vor 28 Jahren, auf dem Höhepunkt liberaler Globalisierungsfantasien, warnend vor Augen gestellt hat: „dass Mobilität und Weltoffenheit durch Ortsfestigkeit ausbalanciert werden muss“. 

Nur leider macht Seehofer zweitens auf halber Strecke halt - sowohl, was seine Wirtschafts- und Globalisierungskritik anbelangt, als auch bei der Ausdifferenzierung des Heimatbegriffs. Kein Wunder. Denn natürlich müsste Seehofer vor allem mit sich selbst und der christlich-liberalen Wachstums-, Entgrenzungs- und Deregulierungsideologie der Neunziger- und Nullerjahre ins Gericht gehen, um zur „Mutter aller Heimatlosigkeitsprobleme“ vorzudringen. Darauf hat zuletzt etwa der französische Soziologe Bruno Latour aufmerksam gemacht: „Zu einem Boden zu gehören, darauf bleiben zu wollen, weiter Sorge für ein Stück Erde zu tragen, sich daran zu binden: All das ist (vor allem in den Neunziger- und Nullerjahren – Anmerk. d. Autors)… ‚reaktionär‘ geworden, weil es in scharfem Kontrast steht zu der von der Modernisierung aufgezwungenen Flucht nach vorn“**.

Tatsächlich preist die Wirtschaftswelt bis heute den funktionalen Mobilitätsathleten mit eingebautem Tunnelblick, der seine durchgetakteten Business-Meetings in den Hotels von New York, Rio und Tokio mit Weltläufigkeit verwechselt. Längst Legende ist auch die schier besoffene Begeisterung, mit der viele deutsche Manager vor 20 Jahren von ihren Stippvisiten in Shanghai oder Peking heimkehrten, um den deutschen „Standort“ schlechtzureden, den fehlenden Biss der Deutschen zu beklagen, ihre mangelnde Bereitschaft zum Aufbruch, zur Affirmation der neuen, globalen, entgrenzen Welt: Eine „deutsche“ Zukunft gab es damals nur jenseits seiner Grenzen. Und ein „Heimathafen“ war nur als Umschlagplatz für die Exportindustrie denkbar.

So viel Ortsvergessenheit rächt sich heute – nach dem Ende der hochfliegenden Entgrenzungsfantasien. Klimawandel, Finanzkrise, Migration - die drängendsten Probleme der Menschheit schreien heute nach Schranken, Regeln, Restriktionen. Das Problem: Eine Wurzel ist schnell herausgerissen. Neue Wurzeln schlagen hingegen - das dauert. Entsprechend fragt sich Bruno Latour: „Wonach wird der Wunsch nach Bindung aussehen, wenn (die Wirtschaftswelt,  Anmerk. d. Autors.) einmal aufhört zu fliehen?“ Für Heimatminister Horst Seehofer ist die Sache klar: Er deutet Ordnungspolitik zur Heimatpolitik um („Heimatbezogene Innenpolitik wird sich auch dem Austarieren von Markt und Staat widmen“). Er deutet Sozialpolitik zur Heimatpolitik um („Heimat beginnt in den eigenen vier Wänden. Die Entwicklung der Mieten und des Wohneigentums ist das brennendste soziale Problem heute und in der Zukunft.“). Und er versteht unter Heimat vor allem eine „kulturelle Identität“, die um das „Menschenbild des aufgeklärten Christentums“ zentriert ist - und in die sich Zuwanderer hinein zu integrieren haben.

Das allerdings greift mindestens aus drei Gründen zu kurz: Erstens hat „Heimat“ nicht nur eine räumliche und zeitliche Dimension im Sinne von „Die Orte meiner Kindheit“. Zweitens sind „die eigene Herkunft, die Prägung, die eigene Identität“ (Seehofer) niemals etwas je Eigenes und Unveränderbares, sondern immer das Ergebnis geteilter Erfahrungen - als Prägung und Identität nur begreifbar aus der Distanz, die das Ich in Abstand zu sich selbst und anderen gewinnt, das heißt: Zunehmendes Heimweh kann nur kennen, der sich immer wieder Fremdheitserfahrungen aussetzt. Allein daher verbietet sich drittens die politische Inanspruchnahme des Heimatbegriffs, zumal in Deutschland, das die Grenzen dessen, was es alles beheimaten soll, im 20. Jahrhundert bekanntlich sehr weit ausgelegt hat: Sie nimmt dem Heimatbegriff alles Tiefe und Weite, begünstigt das Flache und Enge - und stürzt die Republik in einen nach unten offenen Überbietungswettbewerb, in der Deutschland zum Idyll stilisiert, geschützt und verteidigt wird, aus Angst und Vorurteil - und in dem es dann plötzlich um künstlich nationalisierte Schicksalsfragen geht: „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme.“

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* Rüdiger Safranski, Wie viel Globalisierung verträgt der Mensch?, Hanser, 1990
** Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Suhrkamp, 2018

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