Tauchsieder

Rasend in den Stillstand

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Zwingend unklares Wahlergebnis


Drittens: Weil sich die Präferenzen der Mitte-Wähler diesmal auf zwei kulturelle Lager („bürgerliche Mitte“ vs. „linke Mitte“), drei Kanzlerkandidaten, vier politische Basisangebote und fünf mögliche Koalitionen (inkl. „große Koalition“) verteilen, werden viele politisch interessierte Deutschen ihre Wahlentscheidung vor allem als defizitär empfinden. Sie sehen sich zu einer taktisch-strategischen Wahl geradezu herausgefordert – weshalb das Risiko, am Ende nicht das zu bekommen, worauf die Spekulation zielte, so groß ist wie nie zuvor. Statt dessen „gewinnt“ die Wahl auf relativste Weise, wen die Deutschen in welcher Partei mit welchem Personal in welcher denkbaren Koalition am wenigsten ablehnen. Ein deshalb zwingend unklares Wahlergebnis auf der Basis einer derart komplexen, in sich verschachtelten, noch dazu primär negativen Präferenzordnung hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.

Anders gesagt: Es ist schier unmöglich bei dieser Wahl, sein Kreuz am Abend des 26. September 2021 nicht zu bereuen. Was wählt, wer Olaf Scholz gern an der Spitze einer schwarz-grünen Koalition sähe? Wen wählt, wer die Merkel-CDU seit 16 Jahren schätzt, die Merz und Maassen so sehr verachtet? Wohin mit dem Kreuz, wenn man diesmal dringend lindnern möchte, aber ahnt: Der FDP-Chef kann nicht noch einmal den politischen Bartleby mimen („I would prefer not to…“) – und wird sich am Ende auch mit Kevin Kühnert an einen Kabinettstisch setzen?

Viertens: Der politische Lockdown 2021/22 wird ausgerechnet durch das symbolisiert sein, was die Deutschen gewählt haben: den Bundestag. Das Parlament wird (aufgrund der Schrumpfung der beiden vormaligen Volksparteien und absehbar hoher Zweitstimmenanteile der Wettbewerber) im Wege von Überhangmandaten und Ausgleichsmandaten abermals wachsen, diesmal womöglich in volkskongressionale Dimensionen: auf 800 bis 950 Abgeordnete. Und es ist tatsächlich fraglich, ob und wie sie alle physisch Platz finden sollen in den Bürogebäuden rund um den Reichstag und im Plenarsaal.

Schon die Wahl der neuen Bundeskanzlerin oder des neuen Bundeskanzlers wird auf diese Weise zum Schauspiel einer systemischen Dysfunktionalität, für die vor allem Union und SPD Verantwortung tragen: Sie haben jahrelang jede Gelegenheit ausgelassen, das Parlament wieder seiner Normgröße (598 Abgeordnete) anzunähern und die sinnfreie Aufblähung des politischen Betriebs verschuldet.     

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Fünftens: Union und SPD sind maximal bedingt regierungsbereit. Wobei der CDU die Oppositionsrolle beinahe schon zu wünschen ist, so sehr hat sie die Orientierung verloren. Nichts, aber auch gar nichts mehr passt nach Jahrzehnten der programmatischen Selbstentkernung in dieser Partei zusammen; niemand im Konrad-Adenauer-Haus scheint nach 16 Jahren der widerwillig-nachholendem Selbstmodernisierung der Partei einen Plan zu haben, was er für konservativ, christlich, liberal halten soll.

Schlimmer noch: Keiner weiß (und Merz offensichtlich am wenigsten), was er sich unter den Bedingungen von Finanzkrisen und Schuldenbergen, Niedrigzinsen und Kapitalkonzentration, Vermögensblasen und Plattformkonzernen, Steuerflucht und Patentklau, Bitcoin und ökologischer Transformation, explodierenden Großstadtmieten und sinkenden Eigentumsquoten noch unter einer „sozialen Marktwirtschaft“ vorzustellen hat.

Das Ergebnis ist niederschmetternd – und lässt sich neuerdings jeden Abend in den Fernsehnachrichten und Talk-Shows besichtigen. 

Armin Laschet zum Beispiel. Der Parteichef distanziert sich in einer angespannten politischen Lage ohne Not und sachliche Grundlage panisch von der beliebtesten Politikerin des Landes („2015 darf sich nicht wiederholen“), dringt auf ein „Modernisierungsjahrzehnt“ und beruft in Friedrich Merz ausgerechnet Merkels Traumapatienten Nummer eins in sein „Zukunftsteam“ – nur um nach Olaf Scholz“ dreistgenialer Erbschleicherei („Die Kanzlerin und ich…“) doch noch um Merkels Unterstützung zu barmen. Er zimmert eilig ein „Klima-Team“ zusammen, um doch noch irgendwie den Anschluss an ein Thema zu finden, das nicht nur „grüne Verbotspolitiker“, sondern etwa auch Unternehmen wie VW und BASF seit langen Jahren entschieden und ideenreich bewirtschaften. Er beruft ein „Zukunftsteam“ ein, mit dem er die personell-programmatische Dürftigkeit der Partei geradezu ausstellt.

Der „Wirtschaftsexperte“ Friedrich Merz wird unterdessen von Robert Habeck als ökonomischer Antiquitätenhändler vorgeführt. Derselbe Merz will die Einführung einer CO2-Grenzsteuer zur Einhaltung europäischer Klimaziele verhindern, die seine Parteifreundin Ursula von der Leyen gerade in Brüssel vorbereitet. Und derselbe Merz nimmt es mit der Rechtsstaatlichkeit nicht so genau, wenn er Betrüger an den „Steuerpranger“ gestellt sieht und Ideen zur besseren Rechtsdurchsetzung seitens der Grünen als „staatsautoritäre(s) Denken“ denunziert.

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