Technologisch fast abgehängt Deutschlands Wohlstand in ernster Gefahr

Publikumsmagnet der „Transatlantic Sync“-Konferenz: Andy Bechtolsheim (Mitte), mit Bosch-Manager Hauke Schmidt (links) und Bestsellerautor Christoph Keese. Quelle: Matthias Hohensee

Die Revolution und der Wohlstand der Tech-Branche sind an Deutschland größtenteils vorübergegangen. Es stehen Jobs, der Zusammenhalt der Gesellschaft und auch Deutschlands Einfluss in der Welt auf dem Spiel.

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Das Computer History Museum in Mountain View, neben dem Silicon-Valley-Forschungszentrum von Microsoft gelegen und nur ein paar Straßen von Googles Hauptquartier entfernt, zelebriert den Aufstieg der Computer- und Softwarebranche. Es ist, wie schon die Nachbarschaft demonstriert, eine von den USA dominierte Industrie. Zu den Glanzexponaten gehören Apples erstes Produkt, der Apple-I-Computer sowie ein paar der ersten Web-Server der Suchmaschine Google, die dessen Gründer mit ihren persönlichen Kreditkarten bei einem lokalen Elektronikhandel in Palo Alto erwarben und auf ihre Bedürfnisse anpassten. Der deutsche Computerpionier Konrad Zuse ist mit einer Gedenkplakette geehrt. Eine Erinnerung, dass es für Deutschland auch anders hätte laufen können. Ebenfalls symbolisiert durch Fraunhofer-Innovationen wie das Flüssigkristalldisplay oder Karlheinz Brandenburgs Datenkompressionsformat MP3 – erfunden in Deutschland, kommerzialisiert im Ausland.

Der perfekte Standort also für eine Sinnsuche, warum das so ist und ob das in Zukunft so bleiben wird. Es ist Montagvormittag, der Veranstaltungssaal im zweiten Stock ist mit rund vierhundert Besuchern dicht gefüllt – alles Teilnehmer der „Transatlantic Sync“-Konferenz. Ein, wie im Silicon Valley üblich, überwiegend männliches Publikum. Allerdings nicht altmännlich, sondern die Mehrheit unter 35 Jahren. Darunter viele Studenten der Stanford-Universität, die meisten deutscher Herkunft. Organisiert haben die dreitägige Konferenz die beiden Stanford-Doktoranden Katharina Lix und Lars Neustock, unterstützt von der German American Business Association. Es geht um die „gemeinsame digitale Zukunft von Deutschland und dem Silicon Valley“, symbolisiert durch das Logo der Tagung, einem Schaltkreis aus der deutschen und amerikanischen Flagge.

Das Motto unterstellt, dass es eine gemeinsame Zukunft gibt. Tatsächlich ist offen, ob Deutschland in dieser digitalen Zukunft noch relevant, zum Zuschauen verdammt oder doch aktiver Mitspieler ist. Auf letzteres hoffen nicht nur Wirtschaftsführer, sondern auch deutsche Politiker. Deshalb wird die Tagung auch von der deutschen Regierung gefördert. Außenminister Heiko Maas hat einen seiner Transatlantik-Kenner geschickt: den CDU-Abgeordneten Peter Beyer.

Berlin ist alarmiert. Deutsche Politiker, allen voran Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, wissen nur zu gut, dass die Revolution und der Wohlstand der Tech-Branche an Deutschland vorübergegangen ist, angefangen von Computern, Smartphones, dem Internet, Suchmaschinen oder dem Cloud Computing. Selbiges droht nun auch beim maschinellen Lernen, der Künstlichen Intelligenz. Es ist brenzlig geworden, weil nun auch die letzten großen Wohlstandssäulen, die Autobranche und der Maschinenbau, tiefe Risse haben. Es stehen eine Menge Jobs, Schicksale, der Zusammenhalt der Gesellschaft, Deutschlands Einfluss in der Welt und nicht zuletzt Wohlstand auf dem Spiel.

Wie Altmaier bei seiner jüngsten Silicon-Valley-Reise richtig konstatierte, werden die momentanen Umwälzungen zwar neue Arbeitsplätze erzeugen, aber eben nicht automatisch in Europa oder Deutschland. Da hilft alles Schulterklopfen nichts, dass man immer noch Heimat der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt ist und Land der Tüftler und Wissenschaftler. Vielleicht noch führend in der Künstlichen Intelligenz – allerdings der Forschung, nicht der Kommerzialisierung. Und so ist die Tagung auch ein Hilferuf an die im Computermuseum Versammelten. An Talente etwa wie Katharina Lix, die in Stanford erforscht, wie die Digitalisierung Organisationen verändert und wie diese neu aufgestellt werden müssen. An Lars Neustock, der an Algorithmen arbeitet, die Bauteile zum Ausdrucken entwerfen. Oder an den ehemaligen Max-Planck-Forscher Christoph Leuze, der an der Stanford-Universität erkundet, wie sich virtuelle und erweiterte Realität zum Heilen von Patienten nutzen lässt. Wie kann Deutschland sich mit Hilfe seiner Talente endlich so aufstellen, dass es nicht in der Vergangenheit steckenbleibt und von der Zukunft überrollt wird?

„Man möchte da nicht abgehängt sein“

Antworten soll zunächst der Publikumsmagnet der Tagung, Deutschlands mit Abstand erfolgreichster Silicon-Valley-Unternehmer: Andy Bechtolsheim schwingt sich auf die Bühne, hat heute wegen dem europäischen Publikum seine Uniform aus verbeulter Jeans, Hemd und Turnschuhen mit einer rot-weißen Krawatte formalisiert. Moderator Olaf Groth, ein Haas-Business-School-Professor, der vor fast dreißig Jahren Deutschland den Rücken kehrte, stellt ihn als Mitgründer von Sun Microsystems vor. Einer Silicon-Valley-Ikone, die durch Unix-Workstations bekannt wurde und später durch die Programmiersprache Java. Aber im Hightech-Tal und auch in Deutschland ist Bechtolsheim dadurch berühmt, dass er den Stanford-Studenten Larry Page und Sergey Brin einen 100.000 Dollar Scheck überreichte – das erste Fremdkapital von Google.

In seinem Aufzug und den schlohweißen Haaren wirkt der Unternehmer wie ein Universitätsprofessor und doziert auch so. „Vor langer Zeit war die Menschheit von Landwirtschaft geprägt und das blieb auch lange so, bis vor 250 Jahren James Watt die Dampfmaschine entwickelte, das erste mechanische Produkt, das mehr Kraft als ein Mensch hatte“, beginnt Bechtolsheim seinen Vortrag. In der für ihn typischen atemlosen Sprechweise spannt er dann den Bogen hin zur Erfindung des Mikroprozessors vor einem halben Jahrhundert und schließlich dem unwahrscheinlichen Tempo beim maschinellen Lernen. Vor zehn Jahren wurden 100 wissenschaftliche Aufsätze pro Jahr über diese Spezialdisziplin veröffentlicht, im vergangenen Jahr waren es 100 pro Tag. „Ich bin überzeugt davon, dass dieses Jahrhundert als Zeitalter der Künstlichen Intelligenz eingehen wird“, proklamiert Bechtolsheim. „Es ist eine riesige Chance, Produktivität, Innovation und Wertschöpfung zu verbessern, durch grundsätzlich alle Industrien“, fasst er zusammen. Und schiebt nach: „Man möchte nicht das Unternehmen oder das Land sein, das dabei hinterherhinkt. Es ist ein Rennen.“

Für Referent Hauke Schmidt, Vice President für Forschung und Entwicklung bei Bosch, ist Deutschland vor allem bei Künstlicher Intelligenz im Maschinenbau prädestiniert. Als Manager von einem deutschen Traditionskonzern muss der im Silicon-Valley-residierende Forschungschef Nordamerika natürlich Optimismus verbreiten. Bechtolsheim scheint diesen nicht zu teilen. Bei Künstlicher Intelligenz, weiß er, fließt das meiste Kapital in Software. Das Problem sei jedoch, dass Deutschland bei Software, mit Ausnahme von SAP, historisch schwachbrüstig sei. Deutsche Talente hätten bei Microsoft oder Google Labs anheuern müssen, weil der Rest der Industrie Software nicht so einen hohen Stellenwert beigemessen hätte. „Die größte Wertschöpfung liegt inzwischen eindeutig in Software, nicht in Hardware“, bekräftigt er. Keine leichte Aussage für ihn. Denn Bechtolsheim ist ein Hardware-Ingenieur alter Schule. Doch seine Schöpfung Sun Microsystems ist schon vor Jahren von dem Softwarekonzern und SAP-Wettbewerber Oracle geschluckt worden. Das Gros seines Milliardenvermögens stammt aus seiner Investition in Google, also Software.

Im persönlichen Gespräch erzählt der Wahlamerikaner mit deutschem Pass oft, wie sehr es ihn betrübt, dass der durch die Internetrevolution erzeugte Wohlstand an Deutschland vorübergegangen ist und, dass die zu Hause gebliebenen Unternehmer nicht die gleichen Chancen wie in Amerika gehabt hätten. Es geht ihm dabei nicht um persönlichen Reichtum. Sondern um die Internet-Gründergeneration, die nun in Deutschland fehlt – oder zumindest dünn gesät ist und so ihre Erfahrung und ihren Wohlstand nicht in neue Unternehmungen oder – wie in Amerika üblich – universitäre Forschung stecken.

Deutschland: Gut im Erfinden, schlecht im Kommerzialisieren

Das Erfolgsrezept des Silicon Valley ist relativ simpel: Das Hightech-Tal ist nicht nur gut darin, interessante Ideen zu entdecken, sondern diese auch zu skalieren. Zum Beispiel mit einer Menge Kapital, um sie richtig groß zu machen und sie durchzufinanzieren.

Genau daran hapert es in der Bundesrepublik, stellt Christoph Keese, Axel Springer Manager, Bestsellerautor und Deutschlands Chefaufklärer übers Silicon Valley fest, der für die Konferenz aus Berlin angereist ist. „Wir sind gut darin Sachen zu erfinden, aber nicht zu kommerzialisieren“, sagt er und erzählt den Fall eines Heidelberger Professors: Der sei an die Elite-Universität MIT gewechselt. Auch, weil er in Deutschland einfach kein Geld für seine Forschungen bekommen habe. „Wir investieren viel zu wenig, packen das Geld lieber aufs Bankkonto, wo es längst keine Zinsen mehr erwirtschaftet“, sagt Keese und fordert: „Das muss sich ändern.“ Dafür erntet er Beifall.

In den USA wurden im vergangenen Jahr 131 Milliarden Dollar in Wagniskapital gesteckt. In Deutschland waren es ungefähr 5,1 Milliarden Dollar. Im zweiten Quartal 2019 wurden in Start-ups für Künstliche Intelligenz in den USA etwa 7,4 Milliarden Dollar investiert.

Doch die Kluft ist noch viel größer. Denn die USA haben Megakonzerne wie Alphabet/Google, Apple, Amazon, IBM und Microsoft, die zusätzlich Milliarden von Dollar in die Entwicklung maschineller und künstlicher Intelligenz pumpen. Und China hat neben heimischen Gewächsen wie Alibaba, Tencent und Baidu zudem ein ambitioniertes Regierungsprogramm. Es soll das Reich der Mitte zum Weltmarktführer bei Künstlicher Intelligenz katapultieren.

Deutschland rühmt sich hingegen neben der Kreditanstalt für Wiederaufbau und dem Hightech-Gründerfond, neuerdings mit einer Agentur für sogenannte Sprunginnovation. Große Sprünge sind im Etat allerdings nicht drin. Mit 150 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt wäre es gerade mal Kreisklasse bei Silicon-Valley-Wagnisfonds.

Für den CDU-Politiker Beyer ist es zumindest ein Anfang. Der Anwalt hasst Fatalismus. „Wir müssen irgendwo anfangen“, sagt er. Tatsächlich wird Deutschland mangels Enthusiasmus privater Investoren wohl nicht umhin kommen, einen Staatsfond für Innovation aufzulegen, der Vorhaben finanziert, von denen traditionelle Wagniskapitalgeber, die im Zeitraum von maximal sieben Jahren denken, die Finger lassen. Beispielweise in der Medizin, die noch am Anfang der Digitalisierung steht.

Die Stanford-Universität liefert eine Blaupause, wie das funktionieren könnte: Sie hilft beim Kommerzialisieren von Ideen und erhält dafür eine Lizenz. Diese brachte etwa im Fall von Google Hunderte Millionen Dollar ein. Genauso könnte auch ein Staatsfond funktionieren und sich refinanzieren.

Tatsächlich gibt es auch in den USA bereits Debatten darüber, ob der Staat nicht wieder stärker in die Forschung einsteigen müsste. Ähnlich wie Deutschland vielfach noch von den Errungenschaften aus dem 19. Jahrhundert zehrt, etwa der Erfindung des Automobils, prosperierte die US-Hightechbranche lange von den Investitionen in die Apollo-Mondlandung, den Forschungsvorhaben des US-Militärs, und der Konzernforschung wie von den Bell Labs, wo der Transistor erfunden wurde. Oder Xerox Parc im Silicon Valley, wo sich Apple-Gründer Steve Jobs an modernen Benutzeroberflächen für Computer inspirieren ließ. Doch das war, bevor der Forschungs- und Entwicklungsetat beim Kult des shareholder values massakriert wurde. „Wenn die Regierung dem Privatsektor das Bezahlen von Grundlagenforschung überlassen würde, käme die meiste Wissenschaft zum Stopp“, warnt etwa Nathan Myhrvold, der ehemalige Forschungschef von Microsoft. Es ist also nicht typisch deutsch, das Engagement von Politikern oder vielmehr des Steuerzahlers einzufordern.

Aber mehr Geld für Forscher und vor allem Gründer wäre nur der erste Schritt. „Wir müssen die Einstellung ändern, Risikobewusstsein ermuntern“, fordert Autor Keese. Tatsächlich scheint Deutschland dort wieder den Rückwärtsgang einzulegen. Unternehmer hatten noch nie einen guten Ruf im Land der Dichter und Denker. Wurde ihnen früher nur Profitgier unterstellt, kommt nun noch der Vorwurf der Umweltzerstörung hinzu. Und die Krise der Autoindustrie wird von nicht wenigen mit Häme begleitet.

Die Talente, die im Publikum der „Transatlantic Sync“-Konferenz sitzen, sind nicht ohne Grund ins Silicon Valley gegangen. Und viele von ihnen, wie Andreas Zöllner, der vor zehn Jahren als Forschungsassistent nach Stanford kam und Mitgründer des Start-ups BrightCrowd ist, wollen auch noch länger im Valley bleiben. Trotz der exorbitant hohen Lebenshaltungskosten und einer zunehmend maroden Infrastruktur.

Es sind die Chancen und die persönliche Entfaltung, die das Hightech-Tal bietet. Hauptredner Bechtolsheim hat es selber vorgemacht. Er wechselte 1975 im Alter von 20 Jahren mit einem Fulbright-Stipendium von der TU München zur Carnegie-Mellon-Universität, um schließlich als Doktorand an die Stanford-Universität zu transferieren. Kalifornien gilt als überreguliert, aber „es ist immer noch einfacher, hier ein Unternehmen zu starten“, bekräftigt Bechtolsheim, der auch in einigen deutschen Start-ups investiert ist.

Vielleicht kann Künstliche Intelligenz die Frage beantworten, was Deutschland tun muss, um nicht abgehängt zu werden. Vielleicht gibt sie sogar die richtige Antwort. Aber das Problem ist, dass diese vielleicht nicht verstanden wird. Die Menschen kommen also nicht umhin, ihr Schicksal zu gestalten – da hilft auch die beste Software der Welt nichts.

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