Herr Peil, sind die Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und den U-Bahnhof Maelbeek im EU-Viertel der Stadt die Antwort des „Islamischen Staats“ auf die Festnahme des Paris-Attentäters Salah Abdeslam?
Florian Peil: Das ist sicherlich der Eindruck, den der IS mit den Anschlägen erwecken will. Tatsächlich braucht die Vorbereitung eines solchen Anschlags Zeit, in diesem Fall Monate. So eine Attacke organisiert niemand in ein paar Tagen. Zum Zeitpunkt der Verhaftung Abdelslams dürften die Vorbereitungen weitgehend abgeschlossen gewesen sein. Die Verhaftung könnte jedoch ein Auslöser dafür gewesen sein, die Pläne in die Tat umzusetzen.
Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve sprach nach der Festnahme Abdeslams von einem „wichtigen Schlag“ gegen den IS. Inwiefern ist der „Gegenschlag“ des IS nun psychologisch wertvoll für die Terrororganisation?
Der IS hat seinen Anhängern und den Sympathisanten bewiesen, dass er auf Knopfdruck im Herzen Europas komplexe Terroranschläge verüben kann. Und zwar mit beinahe chirurgischer Präzision: Genau dort, wo er selbst angegriffen wurde. Abdeslam wurde in Brüssel verhaftet und vier Tage später werden Flughafen und Metro attackiert – das ist ein Propaganda-Coup für den IS. Darüber hinaus belegt es eine zunehmende Professionalisierung des IS und macht deutlich, über welch gefestigte Strukturen er bereits in Europa verfügt.
Zur Person
Florian Peil ist Sicherheitsberater mit dem Schwerpunkt Nahost und Nordafrika. Seit mehr als 15 Jahren beschäftigt er sich mit der arabischen Welt. Vor seiner Beratungstätigkeit war er war unter anderem bei einer deutschen Sicherheitsbehörde in der Terrorismus-Bekämpfung beschäftigt. Heute berät er Unternehmen, die in Nahost und Nordafrika tätig sind. Aktuell ist von ihm das Buch: "Terrorismus - wie wir uns schützen können" beim Murmann Verlag (ISBN: 978-3-86775-5598).
Können Sie das genauer erklären?
An solchen Anschlägen sind immer Unterstützer und Logistiker beteiligt, die helfen, die Attacken vorzubereiten, Waffen und Sprengstoffe beschaffen, Bomben bauen und grundsätzlich das Organisatorische übernehmen. Die Attentäter sind immer nur der sichtbare Teil solcher Anschläge. Im aktuellen Fall ist dieses Netzwerk zudem eingebettet in eine Gemeinschaft aus Sympathisanten und Mitwissern.
Diese Gemeinschaft bildet der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, wo Abdeslam sich zuvor vier Monate verstecken konnte, obwohl sein Gesicht in der ganzen Welt bekannt war.
Die meistgesuchte Person Europas kann man nicht vier Monate lang unbemerkt verstecken. Es gibt immer Mitwisser. Die Tatsache, dass so eine Information nicht nach außen gesickert ist, zeigt nur, wie eng die Bindung innerhalb dieser Gemeinschaft in Teilen von Molenbeek sein muss.
Was macht die Sache so gefährlich?
Die Sicherheitsbehörden erhalten keinen Zugriff. Sitzt ein Großteil des Netzwerks in Molenbeek, ist eine Kommunikation per Mail oder Telefon nicht mehr notwendig, da alles direkt und persönlich weitergegeben werden kann. Eine elektronische Überwachung fördert daher keine relevanten Informationen zu Tage. Bei der Überwachung dieser Milieus gibt es ganz erhebliche Lücken.
Wie können Regierung und Behörden diese Lücken schließen?
Der entscheidende Punkt ist: Die Sicherheitsbehörden brauchen Zugänge zu diesen Milieus – über Informanten. Das ist aber im jihadistischen Milieu sehr schwierig. Die Geheimdienste müssten hier viel aggressiver vorgehen dürfen. Dafür brauchen die Behörden aber auch die entsprechenden Befugnisse.
Unmöglich, alle potentiellen Ziele zu schützen
Das müssen Sie erläutern.
In Deutschland dürfen sich V-Leute beispielsweise nur in sehr eingeschränktem Maße bei der Aufklärung strafbar machen. Das können Sie aber in vielen Milieus gar nicht verhindern, wollen Sie Zugang zum inneren Zirkel bekommen. Wer nicht mitzieht, ist raus. Hinzu kommt, dass solche Einschleusungen dauern können - mitunter sind es Jahre, bis ein Informant brauchbare Informationen liefert.
Ähnlich wie in Paris liefen die Attacken in Brüssel nahezu gleichzeitig ab, was viel Kommunikation erfordert. Ist es ein Versagen der Sicherheitsbehörden, dass das – trotz verschärfter Sicherheitsvorkehrungen – zum zweiten Mal geschehen konnte?
Sicher sind die Anschläge von Brüssel auch ein Versagen der Sicherheitsbehörden. Was die Attacken in Paris und Brüssel verbindet ist der Umstand, dass beide vermutlich vom selben Netzwerk ausgeführt wurden. Das wäre das erste Mal, dass ein solches Netzwerk zwei große Anschläge hintereinander verüben kann. Normalerweise werden solche Netzwerke nach dem ersten Anschlag von den Behörden zerschlagen. Der norwegische Terrorismusforscher Thomas Hegghammer hat darauf hingewiesen.
Die Gegner des Islamischen Staates
Die mächtigste Militärmacht der Welt führt den Kampf gegen den IS an. Seit mehr als einem Jahr bombardiert die US-Luftwaffe die Extremisten in Syrien und im Irak. An ihrer Seite sind auch Jets aus Frankreich und anderen westlichen Staaten sowie aus arabischen Ländern im Einsatz. Washington hat zudem US-Militärberater in den Irak entsandt, die Bagdad im Kampf am Boden unterstützen.
Moskaus Luftwaffe fliegt seit Ende September Luftangriffe in Syrien. Sie sollen nach Angaben des Kremls den IS bekämpfen. Der Westen und syrische Aktivsten werfen Russland jedoch vor, die meisten Luftangriffe richteten sich gegen andere Rebellen, um so das Regime von Präsident Baschar al-Assad zu unterstützen.
Deutschland liefert seit mehr als einem Jahr Waffen an die Kurden im Norden des Iraks, darunter die Sturmgewehre G3 und G36 und die Panzerabwehrwaffe Milan. Die Bundeswehr bildet zudem kurdische Peschmerga-Kämpfer für den Kampf am Boden aus.
Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar und Jordanien unterstützen die USA bei den Luftangriffen. Vor allem Saudi-Arabien und Jordanien sehen den IS als Gefahr, weil die Extremisten bis an ihre Grenzen herangerückt sind.
Sowohl im Norden Syriens als auch im Nordirak gehören die Kurden zu den erbittertsten Gegnern des IS. Die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) im Syrien und die Peschmerga im Irak konnten den Extremisten empfindliche Niederlagen beibringen. Unterstützt werden sie von mehreren westlichen Staaten.
Das irakische Militär geht in mehreren Regionen des Landes gegen den IS vor. Allerdings kann sie nur wenige Erfolge vorweisen. Seit Monaten versucht die Armee erfolglos, die westirakische Provinz Al-Anbar zu befreien. Unterstützt wird sie von schiitischen Milizen, die eng mit dem Iran verbunden sind.
Sie bekämpfen das Regime und den IS. Das gilt auch für die Nusra-Front, syrischer Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida. Sie teilt die Ideologie des IS, ist aber mit ihm verfeindet.
Auch das syrische Militär geht gegen den IS vor. Kritiker werfen dem Regime jedoch vor, es greife vor allem andere Rebellen an und lassen die Extremisten gewähren. Auffällig ist, dass sich die meisten syrischen Luftangriffe nicht gegen den IS, sondern gegen Regionen unter Kontrolle anderer Gruppen richten.
Bei den Anschlägen wurden Bomben genutzt. Wie kamen die Terroristen trotz der intensiven Fahndung nach den Attacken von Paris an die Materialien?
Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass die Materialien dieselben sind, die die Terroristen bereits in Paris benutzt haben. Sie dürften diese also lange vor den Anschlägen in einer einzigen Charge besorgt haben. Denn nach den Attacken von Paris wird es nahezu unmöglich gewesen sein, solche Materialien zu beschaffen.
Der "New York Times" liegt ein Bericht des französischen Innenministeriums vor, in dem einer der Anschlagsplaner von Paris mit den Worten zitiert wird: „Trefft jeden und alles.“ Von der Suche nach speziellen Zielen rät er ab. Ist so ein Terrorismus überhaupt noch zu bekämpfen?
Das Ziel dieser Terroristen ist Massenmord. Das geht am einfachsten, indem sie weiche Ziele angreifen, solche, an denen regelmäßig viele Menschen zusammenkommen. Für die Sicherheitsbehörden ist es unmöglich, alle potentiellen Ziele zu schützen. Dafür sind aktuell einfach nicht genügend Ressourcen vorhanden, personell wie finanziell.
Das heißt, wir können solche Attacken nur hinnehmen?
Man müsste viel früher ansetzen: Solche Milieus wie Molenbeek dürfen gar nicht erst entstehen.
Dafür ist es jetzt zu spät.
Das stimmt. Jetzt geht es darum, die Symptome zu bekämpfen, das ist Aufgabe der Behörden. Aber zugleich muss die Politik anfangen, den Ursprüngen etwas entgegen zu setzen. Terrorismus ist ein gesellschaftliches Problem und seine Bekämpfung setzt entsprechende Maßnahmen voraus: Prävention, Aufklärung, Programme zur Deradikalisierung. Es muss verhindert werden, dass die Menschen nach Syrien ausreisen wollen, dann tatsächlich ausreisen und in Camps die Fähigkeiten für solch komplexe Anschläge erlernen.
Muss nach den Anschlägen von Brüssel die Sicherheitslage in Deutschland neu bewertet werden?
Die Lage hierzulande hat sich meiner Ansicht nach nicht geändert. Der Anschlag zeigt einfach nur, wie bedrohlich die Lage die ganze Zeit über ist. Der IS verfügt mit hoher Wahrscheinlichkeit über Netzwerke und Attentäter, die solche Attacken auch in Deutschland ausführen können. Wir müssen jederzeit mit einem Anschlag rechnen.