Terror in Deutschland Die Aufruhr-Gesellschaft

Das Jahr 2016 ist das Jahr, an dem der Terror Deutschland erreichte. Der Krieg der Terroristen richtet sich nicht gegen unsere Werte, er richtet sich gegen das Gefüge des zivilisierten Zusammenlebens.

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Der Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz vor dem Anschlag mit einem Lastwagen.Foto: Polizei Berlin/dpa Quelle: dpa

Brüssel, Nizza, später dann Würzburg, München, Ansbach. Nun Berlin, der bisher größte Anschlag auf deutschem Boden, mit einem Dutzend Todesopfern.

Jeder dieser Anschläge in diesem Jahr war so unfassbar schrecklich, dass den Opfern Hohn spricht, wer einfach alles zusammenwirft. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit, neben dem grenzenlosen Horror, den die Taten verbreiteten. Es gilt sie zu beachten, weil sie womöglich den Kampf benennt, den die Gesellschaften des Westens in den nächsten Monaten, neben Herausforderungen, die ohnehin schon auf sie warten, auch zu kämpfen haben.

Um diese Herausforderung zu erkennen, muss man zeitlich etwas zurücktreten. Der klassische Terrorismus, dessen sich Sozialrevolutionäre und Nationalisten schon im 19. Jahrhundert bedienten, zeichnete sich dadurch aus, dass er gegen herausgehobene Personen oder Symbole vorging und die Massen zum Mitmachen, zumindest aber zur Unterstützung auffordern wollte, indem er Schrecken verbreitete. Dieses Musters bedienten sich auch lange die Terroristen der Neuzeit: Man attackierte das New Yorker World-Trade-Center als Symbol des westlichen Kapitalismus oder amerikanische Soldaten im Jemen als Symbole westlichen Weltmachtanspruchs. Irgendwann in den vergangenen Jahren aber änderte sich das.

"Kampf gegen Terror ist auch ein Kampf für Freiheit"
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Statt weiter durchaus durch den Staat zu schützende Symbole des Systems zu attackieren, wechselten die Terroristen zu einer Strategie des Es-kann-jeden-und-überall-Treffens. Bomben explodierten fortan in arabischen Straßenzügen, auf afrikanischen Märkten, in belgischen U-Bahnen. Dann fuhren Lastkraftwagen in Menschenmengen in Nizza und Berlin. Der Schrecken wird maximiert, indem die Waffen zu seiner Verbreitung banaler werden. Damit einher ging eine Umkehr in der Motivlage der Terroristen: Sie wollen nicht mehr die Massen hinter sich scharen, um mit ihrer Hilfe das System zu verändern; sie wollen die Errungenschaften staatlicher Zivilisation, wie sie sich mehr oder weniger überall in der Welt durchgesetzt haben, vernichten.

Die Täter gehen sehr ökonomisch vor

In der Debatte um die latente Terrorgefahr, der die moderne Gesellschaft ausgesetzt ist, gibt es ein Missverständnis. Demnach wollten „islamistische Terroristen“ auslöschen, was wir als „westliche Wertegemeinschaft“ verstehen. Das aber kann schon statistisch gar nicht stimmen: Im so genannten Westen starben dieses Jahr deutlich weniger Menschen durch Terroranschläge als in der islamischen Welt.

Sie greifen einfach dort an, wo sie sich den größten Erfolg für ihre destruktive Strategie versprechen. Das kann (und ist es sogar sehr häufig, das registriert im Westen nur niemand) ein Basar in Nigeria sein, das kann der russische Botschafter in der Türkei sein, das können eben (und sind es glücklicherweise bisher eher selten) Weihnachtsmarktbesucher in Berlin oder Badegäste in Nizza sein.

Die westlichen Staaten sind auf dem Feldzug des internationalen Terrorismus (noch) eher ein Nebenkriegsschauplatz. Denn die Täter gehen sehr ökonomisch vor. Sie schlagen dort zu, wo sie mit minimalem Aufwand den größten „Erfolg“ aus ihrer Sicht erzielen. Und das ist in ihren Augen noch immer meist in außereuropäischen Gesellschaften der Fall, weil Institutionengefüge dort besonders angreifbar, der logistische Aufwand besonders gering scheine.

Große Terroranschläge in Europa

Das ist kein Grund zur Beruhigung. Aber man sollte sich dessen kurz vergewissern. Nur wer das Ziel des Gegners klar definiert, wird ihn auch effektiv bekämpfen können.

Und die Erkenntnis führt zu einer weiteren Herausforderung. „Autoritäre Regime“, schrieb der Historiker Herfried Münkler vor einigen Monaten in der Wochenzeitung "Die Zeit", „tun sich leichter mit dem Terror als demokratische Gesellschaften.“ Und insbesondere mit dieser neuen Form des Terrors. Die althergebrachte war vergleichsweise einfach zu bekämpfen: Man beschützte die vergleichsweise wenigen Symbole des Systems und wiegte sich so in Sicherheit.

Wenn aber grundsätzlich alles in einem Land als Ziel in Frage kommt, wird es schwierig. Dann ist der westliche Staat aufgeworfen. Dann haben es die Recep Tayyip Erdogans und Wladimir Putins dieser Welt, deren Gesellschaftsbild eben nicht bröckelt, wenn sie scheinbar ziellose Gewalt mit zielloser Gegengewalt beantworten, leichter, das Bedürfnis in der Opfer-Gesellschaft nach Rache zumindest kurzfristig zu befriedigen.

„Terroristen sind Fallensteller“

Das aber setzt die Institutionen des Westens unter Druck: Der liberale Rechtsstaat darf mindestens auf mittlere Sicht in den Augen seiner Bürger nicht weniger effizient gegen die terroristische Bedrohung kämpfen als die Erdogans und Putins.

Das aber ist nicht ganz einfach zu lösen. „Terroristen sind Fallensteller“, schrieb eben jener Münkler, „und der Staat geht umso häufiger in die gestellte Falle, je schneller er sich provozieren lässt und blindwütig reagiert." Terrorbekämpfer seien gut beraten, wenn ihre Gegenmaßnahmen in Ruhe und bedacht erfolgten.

Die Frage ist, wie sich das in Gemengelagen wie jener nach Berlin umsetzen lässt. Die „kluge, langfristig angelegte und nachvollziehbare Gegenstrategie“, die viele „Experten“ nun fordern, ist so eine Sache, wenn gleichzeitig der Bilderstrom vom Ort des Grauens nicht abreißt.

Das UBS-International Center of Economics in Society, der Thinktank der Schweizer Großbank, lud vor einiger Zeit Ökonomen nach Zürich, um zu diskutieren, ob sich auf diese Bedrohung nicht eine ökonomische Antwort finden lasse. Und in der Tat argumentierte vor allem der Friedensnobelpreisträger und langjährige Chef der Internationalen Atomenergieagentur Mohammed el-Baradei genau dafür. „Jungen Leuten in Nahost und Afrika fehlt die wirtschaftliche Perspektive“ und den „neuen“ Attentätern aus Europas Vorstädten gehe es ähnlich.

Je mehr Schrecken, desto höher der Nutzen

Aber stimmt das wirklich? Francois Heisborug, ein Konfliktforscher aus London, hielt sofort dagegen: Die meisten Attentäter, zumindest mit Anschlagszielen im Westen, seien meist besser gebildet und ökonomisch alles andere als abgehängt. Deswegen, waren sich die Ökonomen einig: Es gehe Tätern vor allem darum, Angst zu sähen und staatliche Institutionen zu unbedachten Gegenreaktionen zu reizen, die langfristig ihre eigene Basis unterminierten.

Ökonomisch motiviert seien Attentäter lediglich insofern, als dass sie die Aufmerksamkeitskurven, die ihre Taten nehmen werden, von vornherein minutiös berechneten und nach dem Motto handelten: je mehr Schrecken, desto höher der Nutzen. Ein Weihnachtsmarkt in Berlin vier Tage vor Heiligabend ist in dieser perversen Ökonomik ein rentables Ziel.

Die einzige Währung mit der diese Täter handeln ist Angst. Das aber tun sie äußerst rational. „Sie trachten danach, mit kleinem Budget und wenigen Leuten maximale Wirkungen zu erzielen“, sagt der Freiburger Ökonom Tim Krieger. Es war aber noch nie eine gute Idee, einen rationalen Krieger mit irrationalen Gegenmitteln zu bekämpfen, was wilder herumschrauben an Sicherheitsgesetzen und die Proklamation eines neuen Kampfs gegen den Terror sind. Was also tun?

Macht der Wert der "Freiheit" uns schwach?

„Wir können“, schrieb Karl Popper unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, „niemals zur angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft zurückkehren.“ Es bleibe nur der ununterbrochene Weg in die offene Gesellschaft. Nun ist dieser Angang von Liberalen wie Ralf Dahrendorf ebenso widerlegt worden wie von Konservativen wie Nikolaus Fest, die auf die Schwächen eines maximal offenen Staates ohne Wertegerüst hinwiesen: „Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Das aber muss ja nicht heißen, dass Freiheit als Grundwert automatisch zur Schwäche der Institutionen führt. Es heißt aber, dass einer unverbindlichen Freiheit eine Begrenzung gesetzt werden muss. Nicht im Sinne von Verboten, das wäre das Ende der liberalen Gesellschaft. Aber durch die Diskussion von Grenzen und Leitplanken, die den Raum der Freiheit gegenüber dem Raum der Unfreiheit, aus dem die Angriffe erfolgen, abgrenzt. Dann wäre auch klar, wo gegen die Freiheit zu schützen wäre.

Die amerikanische Autorin Judith Shklar hat schon vor einiger Zeit geraten: Die westliche Gesellschaft solle im Kampf gegen äußere Bedrohung sich zunächst einmal von innen selbst vergewissern, was sie will und wofür sie steht. Liberalismus wäre demnach nicht die maximale Freiheit, sondern vor allem die möglichst maximale Abwesenheit von Unfreiheit.

Ein solcher Liberalismus würde sich definieren über die exakte Überprüfung seiner Ränder: Wie viel Begrenzung braucht die freie Gesellschaft? Wie viele Grenzen braucht der Staat, der eine liberale Bevölkerung schützt? Wie viele Leitplanken braucht ein Markt, der Werte schafft statt Frust? Wie viel Einschränkung braucht die Freiheit des Individuums, ohne andere zu schädigen?

Das wäre ein Thema für dieses Wahljahr. Aber das ist natürlich schwieriger als Schreie nach neuen Polizeigesetzen, mehr Kameras, weniger Flüchtlingen, Entschuldigungen von Muslimen und Verteidigung der multikulturellen Gesellschaft, wie nun gefordert wird.

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