Terror und Kriminalität Der Staat muss sich wieder Respekt verschaffen

Eine personell überforderte Polizei und eine unverantwortlich lasche Justiz gefährden das Vertrauen der Bürger in den Staat. Der Umgang mit dem terrorverdächtigen Tunesier ist bezeichnend.

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Quelle: Fontanis - Fotolia

Am Dienstag war der amerikanische Botschafter in unserem Verlag zu Gast. Man merkte das daran, dass vor dem Haupteingang des Verlagsgebäudes drei bewaffnete Polizisten standen, drei andere standen an einem Nebeneingang. In einem Streifenwagen auf der anderen Straßenseite saßen weitere Beamte.

Bisweilen demonstriert der deutsche Staat durchaus Wehrhaftigkeit. Wenn gerade keine Journalisten zuschauen, sieht es anders aus. Der deutsche Staat war offenkundig nicht in der Lage oder willens, einen 2015 aus Tunesien eingereisten Mann sofort abzuschieben oder zumindest in Abschiebehaft zu halten, dessen Asylantrag (wie fast alle von Bürgern der Maghreb-Staaten) abgelehnt wurde und der außerdem als potentieller Terrorist bekannt war.

Der zudem, wie der nordrhein-westfälische Innenminister am Mittwoch zugeben musste, offenbar mehrere falsche Identitäten nutzte und „seinen Lebensmittelpunkt in Berlin suchte“, obwohl er als „Geduldeter“ in Nordrhein-Westfalen hätte bleiben müssen.

Mag sein, dass die Polizisten, die notwendig gewesen wären, den vermutlich 12-fachen Mörder vorher festzusetzen und abzuschieben, gerade mit anderen Aufgaben, etwa dem Schutz von Botschaftern oder Flughäfen beschäftigt waren. Angesichts von rund 21 Millionen unabgebauten Polizisten-Überstunden – laut Gewerkschaft der Polizei – ist es jedenfalls kein Wunder, dass man über eine halbe Million abgelehnte Asylbewerber nicht so einfach abschieben kann.

In Berlin machten und machen in diesen Tagen viele Polizeibeamte Überstunden und der prophylaktische Großeinsatz in der kommenden Silvesternacht in Köln wird das Überstundenkonto auf einen Schlag anschwellen lassen. Nach den Plänen des Kölner Polizeipräsidenten sollen rund 1500 Landes- und rund 800 Bundespolizisten in der Stadt präsent sein, also rund zehnmal so viele wie im Jahr zuvor. Die Schreckensnacht von 2015 soll sich schließlich nicht wiederholen.

Für die erhöhte Polizeipräsenz, die die Innenminister nach den Ereignissen dieses Jahres und angesichts der zunehmenden Verunsicherung der Bevölkerung angesichts von Terror und – zumindest als solche empfundener – Zunahme der Kriminalität versprechen, fehlen schlicht und einfach Polizisten. Die besonders hohe Präsenz an bestimmten Orten – nämlich da, wo die mediale Öffentlichkeit ihren Blick hinrichtet – ist nur durch zwei riskante und nicht nachhaltige Notbehelfe zu stemmen: Neben der Kreditaufnahme an der Arbeitskraft der Beamten (=Überstunden), die auf Dauer deren Motivation und Leistungsfähigkeit zu beschädigen droht, ist es – noch gefährlicher – die Entblößung anderer, weniger im Licht der Öffentlichkeit stehender Landstriche. Im Umland von Köln dürfte es in der Silvesternacht sehr lange dauern, bis im Notfall eine Polizeistreife vor Ort ist.

Die daraus folgende Überforderung kennzeichnet die Lage Deutschlands auf dem ersten und wichtigsten Aufgabenfeld jedes Staates: Das Gewaltmonopol durchzusetzen. Das ist keine Kleinigkeit, sondern hochgefährlich. Schon jetzt verfestigt sich bei vielen Bürgern der Eindruck, dass der Staat nicht mehr für Sicherheit sorgen kann. 

Diskrepanz zischen Rechtsempfinden der Bürger und dem, was geschieht

Zu der personellen Überforderung (anders gesagt: Unterversorgung) der Polizei kommt ein weiteres Phänomen, das deren Motivation schwächt, das Vertrauen der schutzbedürftigen Bürger zersetzt und gleichzeitig die Motivation der Herausforderer des Gewaltmonopols stärkt: die immer offensichtlichere Diskrepanz zwischen dem was nach Gesetz und Rechtsempfinden der Bürger geboten wäre und dem was tatsächlich geschieht.

Diese Diskrepanz zeigt sich in der Existenz zweier Personengruppen, die sich außerdem noch allzu oft überschneiden: So genannte Intensivtäter, als professionelle Diebe und Drogenhändler, die auf vielen Hauptbahnhöfen und öffentlichen Plätzen ihr Unwesen treiben, die immer wieder von der Polizei festgenommen wurden, aber immer wieder auftauchen. Am Kölner Bahnhof sind das vor allem die von der Polizei so genannten „Nafris“ - aus Nordafrika stammende Intensivtäter. Die Mehrheit von ihnen hält sich als Asylsuchende in Deutschland auf. Und damit sind wir beim zweiten Personenkreis: Abgelehnte Asylbewerber.

Nicht nur Ex-Polizist Nick Hein fragt sich in seinem aktuellen Buch „Polizei am Limit“, „warum wir es immer wieder mit denselben Straftätern zu tun hatten“ und „ein Asylbewerber, während sein Antrag geprüft wird, Straftaten begehen [kann], ohne Angst zu haben, ausgewiesen zu werden“.

Wenn vermutlich kriminelle Vergehen de facto ungesühnt bleiben und Hunderttausende Menschen, deren Schutzersuchen nach Prüfung abgelehnt wurde, dennoch weiter in Deutschland bleiben, weil sie nicht abgeschoben werden „können“, weil sie ihre eigenen Ausweispapiere „verloren“ haben, dann verliert der Staat, der sich dies gefallen lässt, unweigerlich an Respekt. Zuerst bei denen, deren Straftaten oder Vergehen folgenlos bleiben – und dann bei allen anderen, die mit den Gefährdungen zu leben haben. Zumal wenn jene, die von den Sicherheitsorganen des Staates keine Sanktionen erfahren, zugleich noch dessen soziale Sicherungsleistungen konsumieren.

Für dieses Versagen – ausbleibende Bestrafung und ausbleibende Abschiebung, von der eigentlich im Falle des Tunesiers fälligen Abweisung an der Grenze ganz abgesehen - ist nicht die Polizei verantwortlich. An Richtern und ihren Urteilen Kritik zu üben, gilt als unfein. Aber dass eine allzu milde Rechtsprechung mittlerweile ein Klima erzeugt hat, in dem sich Täter ermutigt fühlen müssen, alle Hemmungen fallen zu lassen, erfahren nicht nur die in den Kriminalitätsbrennpunkten eingesetzten Polizisten alltäglich am eigenen Leib, sondern vor allem auch die Opfer der grassierenden Einbruchs- und Gewaltkriminalität. Deutschland ist nicht ohne Grund zum Eldorado von Diebesbanden geworden.

Natürlich ist es richtig, jetzt den Ausbau der Video-Überwachung an terror- und kriminalitätsgefährdeten Orten voranzutreiben. Noch viel wichtiger ist es, die Polizei, an der seit den 1990er Jahren in unverantwortlicher Weise gespart wurde, technisch und vor allem personell deutlich aufzurüsten. Aber ohne den Willen der Regierenden und der Rechtsprechenden, das Straf- und Asylrecht endlich wieder konsequent anzuwenden, und Verstöße hart und damit wirkungsvoll zu bestrafen, nutzen alle Gesetze und Investitionen überhaupt nichts.

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