Erfolgreich im Jetzt, strategisch dagegen mit großem Fragezeichen. Laut Umfragen haben 38 Prozent der deutschen Unternehmen keine Strategie für die Digitalisierung, 63 Prozent haben dafür nicht einmal einen Verantwortlichen. Viele Unternehmen unterschätzen die Tipping Points, die Wendepunkte, an denen sich nach langen, winzigen Veränderungsschritten sprunghaft Neues durchsetzt, das Altes hinwegfegt.
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Thomas Sattelberger war Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom. Er wurde von der FDP als Direktkandidat für die Bundestagswahl 2017 im Wahlkreis München–Süd aufgestellt und kandidiert auf Platz fünf der Landesliste der FDP Bayern.
Es hat 75 Jahre gedauert, bis das Telefon 50 Millionen Nutzer hatte. Auf dieselbe Zahl kam das Internet in vier Jahren, Pokémon Go in zehn Tagen.
Und nicht nur die kalifornische Disruption droht unserer klassischen Industrie. Auch das Maschinenhaus China. Schon lange keine verlängerte Werkbank mehr. Sondern ein selbstbewusster Staat, der sich, notfalls mit gefüllter Kriegskasse, an den Tisch der Innovatoren und Hightech-Nationen setzen will – und setzen wird.
Erschwerend haben wir in Deutschland mit dem automobilen Klumpenrisiko zu kämpfen: Ganze Regionen werden dominiert von Automobilzulieferern. Gleichzeitig sind unsere Eco-Systeme der Gründungen und Start-ups unterentwickelt. So stehen wir aktuell im Spagat, pars pro toto, zwischen „Digital & Diesel“.
Freiheitszonen wie Shenzhen und Sophia Antipolis
Ein Lösungsweg liegt aus meiner Sicht in der konsequenten Ausweitung des Prinzips der Ambidextrie, der Beidhändigkeit: Eine Hand steht für das Optimieren des gut laufenden Bestandsgeschäfts im Betriebssystem 1. Die andere für den Aufbruch in die Zukunft im Betriebssystem 2. Mit diesem ambidextren Prinzip balancieren nicht wenige Unternehmen bereits zwischen Aufbruch und Bewahrung – wie bei Spielbein und Standbein. Genau dies brauchen wir auch in industriell geprägten Regionen und High-Tech-Clustern.
Nicht nur in Schwellenländern, auch in Frankreich, den USA oder Großbritannien gibt es inzwischen mehr als ein Dutzend Enterprise Zones, in denen Investitionen erleichtert werden, etwa im Arbeits-, Steuer-, Bau- und Umweltrecht. So hat China in Shenzhen den Kapitalismus erprobt. So reüssierte der südfranzösische Technologie-Campus Sophia Antipolis – 1350 Unternehmen, 34.000 High-Tech-Arbeitsplätze, 60 Bildungszentren, innovationsstark, steuerlich reizvoll, attraktiv für Experten aus aller Welt. Regionale Ambidextrie.
Warum haben wir das nicht in Deutschland? Ja, es gibt Erfolgscluster mit Hidden Champions – etwa die Feinmechanik im Schwarzwald, die intelligenten Produktionssysteme in Ostwestfalen-Lippe, Göttingens Measurement Valley oder Hannovers Rubber Valley.